"Der Glaube ist keine Antiquitätensammlung"

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf 
beim Bonifatiusfest im Bischöflichen Priesterseminar Mainz 
Augustinerkirche Mainz, Donnerstag, 10. Juni 2021, 18.30 Uhr

Denkmal des heiligen Bonifatius vor dem Mainzer Dom (c) Von Martin Bahmann - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=110913
Datum:
Do. 10. Juni 2021
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

 Als Bischof lese ich manche Erfahrungen des Heiligen mit besonderem Interesse: Seine sehr unterschiedlichen, manchmal durchaus ernüchternden Erfahrungen mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, seine Versuchung, wegzulaufen, wenn er Erfolglosigkeit merkt, aber eben auch seine innere Kraft des Glaubens an den Gott, der in den Stürmen dabeibleibt.

Es waren bewegte Jahre zwischen 746 und 754, den Jahren, in denen Bonifatius Bischof von Mainz war. In seinen überlieferten Briefen gibt er uns nicht allzu viel Persönliches preis: Es sind zumeist Anfragen an den Papst, er schreibt über rechtliche oder kirchenpolitische Fragen. Der Stil ist nicht sehr privat, Briefe folgten bestimmten literarischen Kriterien. Dennoch blitzen immer wieder kleine Schlaglichter auf, die uns ahnen lassen, was seine Jahre hier prägte. Er schreibt von Intrigen falscher Brüder, der Klerus macht ihm Sorgen. Als er nach Mainz kam, musste er Bischof Gewilieb absetzen, der sich wohl am Kirchengut bereichert hatte und sich auch sonst nicht durch eine überzeugende Amtsführung auszeichnete. Bonifatius treibt die Frage um, wie er mit ihm umgehen solle. Der Papst verweist auf das Jüngste Gericht, dem der abgesetzte Mitbruder wird Rechenschaft geben müssen. Ansonsten könne man nicht viel machen. Offenbar hatte der Mitbruder seine Anhänger, die Bonifatius das Leben schwermachten. Bonifatius spricht von der Versuchung, wegzulaufen und alles hinzuwerfen, sieht aber seine Verantwortung für die Kirche und die Notwendigkeit zur Treue in seinem Dienst. Er muss persönliche Enttäuschungen einstecken, er zeigt sich immer wieder als ängstlich, ein Biograph des 20. Jahrhunderts hält ihn gar für pedantisch.1Kurios klingen heute seine Anfragen an den Papst, ob man Dohlen, Krähen, Störche, Biber, Hasen und Wildpferde essen dürfe. Dabei lebt er aus einem tiefen Gottvertrauen: „Stehen wir fest in der Gerechtigkeit und bereiten uns vor auf die Versuchung, damit wir Gott standhalten, (…), und sagen ihm: „Herr, du warst unsere Zuflucht von Geschlecht zu Geschlecht. (…) Was wir mit eigenen Kräften nicht tragen können, das wollen wir tragen in der Kraft dessen, der allmächtig ist.“2 Selten blitzt eine Lebensfreude auf. Als ihm ein Abt von einer üppigen Weinspende an das Kloster berichtet, lautet die Antwort des Heiligen, er solle sich doch damit zusammen mit seinen Mönchen einen fröhlichen Tag machen.3 Der 78. Brief des Heiligen geht an Bischof Cudberht von Canterbury und gewährt uns persönliche Einblicke. Der Brief zeigt eine tiefe geistliche Verbindung, ja man könnte es Freundschaft nennen. 
Ein Thema, das ihn umtreibt, ist der synodale Leitungsstil, ein Thema, das heute wieder die Kirche beschäftigt. So bewusst sich Bonifatius seiner bischöflichen Amtsgewalt ist, so wichtig ist ihm der ständige Austausch mit den anderen (zunächst den Bischöfen), aber über die Priester auch die Verbindung mit den Gläubigen. Ihm geht es immer wieder um eine Rückbindung an die ihm anvertrauten Gemeinden, natürlich anders, als wir es heute praktizieren. Von Bedeutung bleibt aber wohl sein Selbstverständnis, Bischof nicht für sich zu sein, sondern für und mit den ihm anvertrauten Menschen. Es gilt, sich für und mit den Menschen den Herausforderungen zu stellen, und nicht die Augen vor den Tatsachen und Anforderungen der Zeit zu verschließen. Die Priester werden wiederholt ermahnt, einen einfachen und überzeugenden Lebensstil zu pflegen, auf äußeren Prunk und aufwändige Freizeitgestaltung zu verzichten. Bonifatius scheut sich auch als Bischof nicht, seine Schwäche und sein Versagen einzugestehen. Ihm ist am einheitlichen Bekenntnis des Glaubens gelegen, das sich eben auch in der Einheit der Ortskirche mit dem Bischof von Rom zeigen muss. Er erinnert die Priester und Seelsorger an ihr Wächteramt, für Gerechtigkeit und die Ehre Gottes einzutreten. Die Hirtenaufgabe der Kirche besteht darin, den Menschen zu dienen und nicht die Selbstverwirklichung der Hirten. Ein Hirte, der nur die eigenen Wünsche befriedigt, ist kein Hirte im Sinne Jesu. Die mit dem Hirtendienst Betrauten sollen geistlich raten können, sie sollen sich Zeit nehmen für die ihnen Anvertrauten, sie sollen heilen, die Gebeugten aufrichten, die Stolzen ermahnen und den Irrenden gute Wege aufzeigen helfen. Es gibt auch eine durchaus prophetische Dimension des kirchlichen Dienstes. Unrecht muss gegenüber den Mächtigen zum Schutz der Schwachen deutlich benannt werden, auch wenn eigene Nachteile dadurch drohen. Das Leben nach dem Evangelium muss alle Lebensbereiche durchdringen und prägen. 
Es ist eine andere Zeit. Das muss man deutlich sagen, viele Bedingungen haben sich geändert, und jede Zeit muss Antworten auf die je eigenen Herausforderungen finden. Dennoch fällt auf, dass wir bestimmte Themen in erstaunlicher, vielleicht sogar erschreckenden Deutlichkeit neu entdecken und für unsere Zeit buchstabieren müssen. 
Ohne das Gottvertrauen geht gar nichts. Wir bleiben seine Kirche und er ist der Herr unseres Lebens. Er ist der eigentliche Hirte, dessen Fürsorge wir durchscheinen lassen müssen. Bonifatius ist ein Beleg dafür, dass sich die Verantwortlichen in der Kirche ihrer Verantwortung bewusst sein müssen. Macht bedeutet für ihn und uns Übernahme von Verantwortung. Ich vermute, wie spüren in diesen Tagen sehr deutlich, wie das konkret werden kann. Wir reden heute über glaubwürdigen Lebensstil, über Lebensform der Priester, der Bedeutung der Glaubwürdigkeit des Lebens der Hauptamtlichen in der Kirche. Heute richtet sich der Blick sicher über den Kreis der Bischöfe und Priester hinaus, auf alle, die in Leitungsverantwortung stehen. Wir ringen um Synodalität. Es ist für mich und uns eine bedrängende Frage, wie wir synodale Wege hier bei uns und weltkirchlich gestalten und leben können. Der Papst selbst stellt uns vor die Herausforderung, größtmögliche Einheit in größtmöglicher Vielfalt zu suchen und zu gestalten. Wir sind auf der Suche, was es heißen kann, derartige Wege geistlich zu gehen und nicht nur eigene Wünsche bestätigt sehen zu wollen. Natürlich haben wir heute andere Vorstellungen von Seelsorge als ein Bischof des 8. Jahrhunderts. Dennoch müssen wir uns heute von Menschen, die die Kirche verlassen haben oder sich mit dieser Frage herumschlagen, sagen lassen, dass sie unsere Seelsorge und Verkündigung, auch die Qualität unserer Angebote bestenfalls für ausreichend halten, wenn nicht oft als mangelhaft und ungenügend. Bonifatius steht auch gegen manchen Versuch, Strukturen und äußeres Erscheinungsbild als ungeistliche Nebenfragen herabzuspielen. Zeitlebens ist Bonifatius mit der Gestaltung von tragfähigen Kirchenstrukturen beschäftigt, welche die Verkündigung unterstützen müssen. Als Bischof lese ich manche Erfahrungen des Heiligen mit besonderem Interesse: Seine sehr unterschiedlichen, manchmal durchaus ernüchternden Erfahrungen mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, seine Versuchung, wegzulaufen, wenn er Erfolglosigkeit merkt, aber eben auch seine innere Kraft des Glaubens an den Gott, der in den Stürmen dabeibleibt. Gott läuft nicht weg. Gerade nicht in den Stürmen der Zeit. Und stürmische Zeiten waren es, und stürmische Zeiten sind es. 

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1 Zum Gesamten: Stephanie Haarländer, Bonifatius in Mainz: Der Mainzer Bischof, in: Bonifatius in Mainz, hg. von Barbara Nichtweiß, Mainz 2005, 55-238, bes. 99-141. 

2 Zitiert aus Haarländer, S. 111. 

3 Ebd. 117.