Wie kaum ein anderer Text bringt der Psalm 23 ein unbändiges, unzerstörbares Vertrauen in Gott zum Ausdruck. Nicht umsonst gehört er fest auch zur jüdischen Totenbestattung: Der Beter findet seine endgültige Heimat im Hause Gottes, in dem er wohnen darf für lange, ja für ewige Zeit. Nachdem ich mich ein wenig mit der Lebensgeschichte des Priesters Josef Seuffert beschäftigt habe, meine ich, dass der Psalm 23 ein passendes Hoffnungslied angesichts seines Todes auch für uns ist. Der Beter preist seinen Hirten, Gott selbst, der ihn führt, begleitet, nährt und schützt. Mit seiner Hilfe findet er Nahrung, grüne Auen und den Ruheplatz am Wasser (VV. 1 und 2). Er beschreibt keine Hirtenidylle: da ist der Weg durch die finstere Schlucht und da sind die Feinde, die ihn bedrängen (VV. 4 und 5). Dennoch verlässt ihn das Vertrauen nicht, dass Gottes Güte ein Leben lang trägt und führt (V. 6). Die Reaktion ist der Gesang, der Lobpreis, der die angemessene Reaktion auf eine derartige Befreiungserfahrung und die Hoffnung auf dauerhaftes Glück in der Gemeinschaft mit Gott ist.
Für Josef Seuffert war ein solcher Psalm keine fromme Theorie. In seinen Erinnerungen an die Zeit im „Stacheldrahtseminar“ in Chartres 1945-1947 zieht er folgendes Resümee: „In den letzten Tagen von Chartres denke ich auch viel über mich nach. Über fünfzig Monate bin ich im Kriegseinsatz und Kriegsgefangener. Mit sechzehn Jahren musste ich in die Flakstellung, mit zwanzig Jahren darf ich nun nach Hause zurück. Für damalige Verhältnisse bin ich noch nicht einmal volljährig. Die lange Zeit habe ich Befehle ausführen müssen, wie all, die das gleiche Schicksal haben. Die letzten Jahre habe ich hinter Stacheldraht verbracht. Und doch habe ich Freiheit, und zwar mehr Freiheit, als man sich vorstellen kann. Die Ursache dafür ist der christliche Glaube. Er sagt mir, dass ich irgendwie geborgen bin, selbst wenn ich keine Sicherheit sehe. So habe ich mich entschieden, Priester zu werden, um dieser Zuversicht weiterzugeben.“[1]
Über vier Jahre geht er als Jugendlicher und junger Mann sein Weg durch das finstere Tal. In seinen Erinnerungen schreibt er darüber: wie er immer wieder allein ist, und durch tiefe Einsamkeit hindurchgeht, wie er angesichts einer drohenden Erschießung als Kriegsgefangener mit dem Leben abschließt, wie selbst katholische Nonnen den deutschen Gefangenen verächtlich behandeln, wie Dreck und Hunger, Krankheit und Ungewissheit weite Strecken seiner jungen Jahre prägen, ohne Kontakt nach Hause oder Lebenszeichen aus dem Elternhaus. Dem Buch fehlt jedes Pathos, auch die Frömmigkeit ist eher in kleinen Randbemerkungen zu sehen, dort, wo er etwa vom Rosenkranz oder dem Neuen Testament berichtet, die ihn begleiten, oder wie er sich freut auf die erste Beichte und die erste Heilige Messe nach Monaten. Josef Seuffert bezeugt die Erfahrung einer inneren Freiheit durch den Glauben, die Erfahrung einer Geborgenheit ohne Sicherheit. An einer Stelle nennt er diese Erfahrung „Reichtum in der Armut“[2]. Wenn jemand einen existenziellen Kommentar zu Psalm 23 suchte, kann man ihm die Erinnerungen von Josef Seuffert ans Herz legen. Die Jahre der Gefangenschaft sind keine Hirtenidylle, aber eine starke Erfahrung eines Hirten-Gottes, der durch das Tal des Todes führt, das dem Menschen nicht erspart geblieben ist.
Bei allen dunklen Erfahrungen dieser Jahre weiß Josef Seuffert auch um den Wert kleiner, unscheinbarer menschlicher Begegnungen. Manchmal trifft er auf Menschen, die in unspektakulären Taten Großes bewirken und so etwas werden wie Boten Gottes in dieser Zeit des Dunkels. Wenn aus dem Feind und dem gefangenen jungen Mann plötzlich der Mitmensch wird, bricht etwas auf, das der Psalm mit den „grünen Auen“ beschreibt. Auch solche Erfahrungen von Menschlichkeit gibt es, und ich kann mir vorstellen, dass derartige Erfahrungen den Menschen und Priester Josef Seuffert nachhaltig geprägt haben.
Die Entwicklung führt ihn 1945 in das neu gegründete Priesterseminar, das den gefangenen Theologiestudenten und Seminaristen ein Weiterstudium ermöglichen sollte. Dieses Seminar war ein wichtiger Meilenstein in der deutsch-französischen Versöhnung nach dem 2. Weltkrieg. Man staunt heute, welche geistliche Kraft in diesen bescheidenen, armen Verhältnissen aufbrach. Spätestens von diesem Zeitpunkt an sind Josef Seuffert und der Gesang der Psalmen und der Liturgie nicht mehr voneinander zu trennen. Er tritt der Schola bei, immer wieder erinnert er sich an die Gesänge und das Gottlob hinter Stacheldraht. „Christen singen“ – so lautet eine Überschrift über die Erinnerungen an das Jahr 1945[3]. Christen müssen einfach singen, vielleicht ist dies gemeint, und es ist nicht nur eine Tatsachenbeschreibung. Christsein ohne Lobpreis geht nicht – hier wären wir wieder bei der Erfahrung des Psalmisten von Psalm 23. Die Erfahrung von Freiheit und Leben löst den Dank aus. Josef Seuffert ist bei der Kirchenmusik angekommen. Es fügt sich, dass er an der Erstellung des Gotteslobs vor 1975 maßgeblich beteiligt ist und auch eigene Melodien einbringt, die sich auch im neuen Gotteslob finden. So lädt er bis heute auch uns ein, sich dem Lobpreis anzuschließen: Christen singen! In dieser Tätigkeit hat er als langjähriger Weggefährte von Kardinal Volk die liturgischen Anliegen des II. Vatikanischen Konzils umzusetzen geholfen.
Der Kontakt mit jungen Menschen war ihm zeitlebens wichtig. Selbst aus der Jugendbewegung stammend, hat er später die Jugendarbeit aufgebaut, in Düsseldorf, später im Bistum Mainz, als Seelsorgeamtsleiter und Firmspender. In den Jahren hat er über 22.000 Jugendlichen im Bistum Mainz das Sakrament der Firmung gespendet. „Ich bin Priester geworden, um diese Zuversicht weiterzugeben“, so erinnert er sich an seine Motivation für den Priesterberuf. Viele, besonders junge Menschen werden von dieser Erfahrung durch ihn berührt worden sein.
In seinen Erinnerungen findet sich die Schilderung einer Priesterweihe in Chartres am 4. Advent 1945. Die Erfahrung einer tiefen Gemeinschaft im Glauben ergreift ihn dort. Lapidar bemerkt er: „Für alle, die in Chartres waren, ist dieses Bewusstsein eine große Selbstverständlichkeit.“[4] Im kirchlichen Alltag ist dies keineswegs so selbstverständlich, und es ist gut, wenn uns dieser große Priester Josef Seuffert neu daran erinnert, welches Geschenk der Glaube in jeglicher Hinsicht ist: Gott ist Hirte, er führt an Wasser des Lebens, er schenkt Zukunft im finsteren Tal, und wie als Christinnen und Christen sind mit dieser Hoffnung gemeinsam unterwegs.
Liebe Schwestern und Brüder, wir haben viel über die frühen Jahre unseres Verstorbenen gesagt. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Anfang mitgegangen ist: Die Erfahrung des Getragenseins, das Bewusstsein des Reichtums, der in der Armut verborgen ist, die Kraft des Lobes Gottes in der Musik, die Bedeutung menschlicher Zuwendung. Das war dann der rote Faden in seiner Tätigkeit in den Kommissionen, der Jugendarbeit, im Seelsorgeamt und im Domkapitel. Einige Male bin ich ihm noch persönlich begegnet und da war etwas zu spüren von diesem inneren Feuer und dem Vertrauen in den Hirten, der uns alle führt und leitet.
Wir danken Gott heute für den Menschen und den Priester Prälat Josef Seuffert. Ich werde den Psalm 23 nicht mehr singen, ohne auch an ihn zu denken und sein persönliches Glaubenszeugnis: „Der Herr ist mein Hirt, er führt mich an Wasser des Lebens“. Diesem Hirten vertrauen wir ihn an. Er möge wahrmachen, was der Psalm bekennt. Nach den vielen Wegen des Lebens werden wir gute Weide finden, Wasser des Lebens, und wir werden wohnen dürfen bei ihm für lange, für ewige Zeiten. Möge Gott dies unserem Verstorbenen, Prälat Josef Seuffert, schenken.