Der Mensch ist ein mit Würde ausgestattetes Ebenbild Gottes

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Festgottesdienst anlässlich der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft in Mainz am 1. Oktober

Görres-Gesellschaft-Kohlgraf (c) Bistum Mainz / Blum
Datum:
So. 1. Okt. 2017
Von:
Bischof Kohlgraf
Es ist heute notwendiger als je zuvor, „den Menschen nicht nur als Bürger oder wirtschaftliches Subjekt zu sehen“, sondern als Person, als mit Würde ausgestattetes Ebenbild Gottes: und zwar jeden Menschen, geboren oder ungeboren, jung oder alt, gesund oder krank, arm oder reich. Das ist eine der Identitäten Europas, und wir als Kirche, als Christinnen und Christen müssen unserem Europa mit Gottes Hilfe diese Seele einhauchen.

In einem alten Film wird von zwei armen Männern erzählt, die aufgrund ihrer Gutmütigkeit im Leben nicht weiterkommen. Immer wieder geben sie weg, was sie haben. Selbst gehen sie leer aus. Eine Erfahrung, die viele machen: der Gute ist der Dumme. Wenn ich an andere denke, gehe ich selbst leer aus. Der eine von den beiden kommt nun eines Tages auf den Gedanken, seine Seele zu verkaufen. Von diesem Tag an gelingt ihm alles. Er steigt auf, wird reicher und reicher, kommt zu hohen Ehren und stirbt als Konsul, reichlich mit Geld und Gut ausgestattet.

Als er seine Seele verkauft hatte, gab es keine Rücksicht mehr, keine Menschlichkeit, keinen Skrupel. Alles wird dem Gewinn, dem Erfolg untergeordnet. Der Mensch zählt nicht mehr. Wer keine Seele mehr hat, ist in den Augen der Welt oft ein Großer, aber im Grunde nur noch eine Fassade. Kein menschliches Inneres mehr, alles leerer Schein. Menschen geben ihre Seele hin, wenn sie nur noch auf Kosten anderer leben.

Vielleicht können manche die Aussage dieser Geschichte gut nachempfinden. Es ist auch eine Geschichte, in der sich gesellschaftliche Entwicklungen wiederfinden lassen. Auch eine Bürgerschaft kann seelenlos werden. Wenn wir heute nach Europas Identität fragen, geht es mit Papst Franziskus zufolge darum, daran zu arbeiten, „dass Europa seine gute Seele wiederentdeckt“. Jacques Delors hat einmal davon gesprochen, dass Menschen Europa eine Seele geben müssen.

Tatsächlich ist Menschlichkeit eine der Identitäten Europas. Der Mensch, und zwar der einzelne Mensch steht im Zentrum dieser Menschlichkeit: die Würde jeder Person. Damit verbindet sich die Rede von den Menschenrechten, mit denen sich auch die Kirche nicht immer leicht tat.  Auch die Kirchen prägten lange eine Unkultur von Abgrenzung, Abwertung anderer und Machtmissbrauch. Erst im II. Vatikanischen Konzil bekennt sich die katholische Kirche zur Religionsfreiheit, die aus der Würde der Person als Ebenbild Gottes abgeleitet wird. Es war ein langer Weg zur Anerkennung der Menschenrechte, die die Kirche im letzten nicht der Theologie, sondern dem säkular-weltlichen Recht verdankte, wie Karl Lehmann einmal herausstellt[1]. Kirche hat in diesem zentralen Punkt durchaus von der freien Welt gelernt. Für uns als Kirche sind die Menschenrechte nicht verhandelbar, im Besonderen nicht das Recht auf Leben, gerade auch im Hinblick auf die Ungeborenen. Die Kirche kennt keine mehr oder weniger wertvollen Menschen. So sehr die Kirche von den säkularen Quellen gelernt hat, die Freiheitsrechte des Menschen zu achten, so sehr ist es heute ihre Aufgabe, aus Gründen der Menschlichkeit an mögliche Grenzen der Freiheit zu erinnern. Freiheit braucht, so Papst Franziskus, ein Gewissen und ein geschichtliches Gedächtnis[2]. Das ist Aufgabe der Seele, die wir Europa geben müssen. Freiheit ohne Gewissen ist Diktatur.

Nachdem in vielen Metropolen Europas Menschen unter grausamen Terroranschlägen zu leiden hatten, war schnell die Rede davon: wir lassen uns unsere Werte und unsere Lebensweise nicht kaputt machen. Es ist notwendig, die Werte auf ein solides Fundament zu stellen, nämlich auf das Fundament von Freiheit, Gewissen und Menschlichkeit. Es ist heute notwendiger als je zuvor, „den Menschen nicht nur als Bürger oder wirtschaftliches Subjekt zu sehen“, sondern als Person, als mit Würde ausgestattetes Ebenbild Gottes: und zwar jeden Menschen, geboren oder ungeboren, jung oder alt, gesund oder krank, arm oder reich. Das ist eine der Identitäten Europas, und wir als Kirche, als Christinnen und Christen müssen unserem Europa mit Gottes Hilfe diese Seele einhauchen. Wenn der Papst einmal den Traum von einem Europa formuliert, das Mutter ist, die Leben weitergibt, für Gebrechliche, Hilfesuchende, Familien und viele andere Bedürftige, dann meint er kein abstraktes Europa, sondern die Menschen, die diesem Kontinent ein Gesicht geben, jeden und jede einzelne, die Gruppen und alle, die Verantwortung tragen. Was vielleicht hochtrabend klingt, wird schnell konkret: sobald ich persönlich menschlich handeln und menschlich sprechen soll. Diejenigen, die Europa nach den beiden Weltkriegen geprägt haben, wussten auch um die politische Dimension der Menschlichkeit als einer Identität Europas, eines Europas mit Seele.

Der Einfluss der Kirchen und des Christentums schwindet. Dennoch dürfen wir nicht aufhören, mit vielen anderen, denen die Identität der Menschlichkeit wichtig ist, zusammen zu arbeiten. Das Evangelium bleibt unser Angebot, das hilft, der Freiheit ein Gewissen zu geben, und den Wert des Füreinander-Daseins zu leben.

Die Gründungsväter Europas, wie es sich in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet hat, auch die Päpste erinnerten an eine weitere Identität: der Mensch ist fähig zur Transzendenz. Er hat ein Wissen in sich, dass er mehr ist als ein Konsument, ein biologisches System, das funktioniert und irgendwann zum Sterben verdammt ist. Wenn wir uns heute bemühen, Europa eine Seele zu geben, dann darf dieser Aspekt nicht vergessen werden. Am Anfang Europas steht die große Philosophie eines Platon und Aristoteles, die in den folgenden Jahrhunderten auch die christlichen Theologen geprägt hat. Papst Franziskus erinnert einmal an Raffaels Fresko „Die Schule von Athen“, auf dem beide Philosophen dargestellt sind. Der eine weist auf die Welt der Ideen, der andere zeigt zum Betrachter, auf diese konkrete Welt hin. Beide Blickrichtungen hat eine gute Theologie immer verbunden. Sie hat an Gott erinnert, sie kam aus dem Gebet, dem Gespräch mit ihm. Aber sie hatte immer auch die Menschen im Blick, ihr Heil, ihr Leben. Der Mensch wird arm, wenn er den Himmel vergisst, daran hat die Theologie, daran hat die Kirche zu erinnern. Auch das ist eine der Identitäten Europas, die vielleicht zunehmend vergessen wird. An Gott zu erinnern, bleibt die Kernaufgabe der Kirche und jedes einzelnen Glaubenden.

Theologie ist dabei keine abstrakte Wissenschaft. Es waren große heilige Persönlichkeiten, die zur Identität Europas gehörten: Augustinus, Thomas von Aquin, Elisabeth von Thüringen, Franz von Assisi, Ignatius von Loyola, um nur einige zu nennen. Aber neben den großen die zahllosen Heiligen des Alltags, die in ihrem Glauben und Leben Himmel und Erde verbunden haben. Solche Menschen geben auch heute Europa eine Seele. Es ist eine der Hauptsorgen auch in den Fragen der Pastoral heute, wie getaufte Menschen ihre Identität als Christin oder Christ entdecken und froh leben können. Das ist offenbar nicht nur eine Frage für die Zukunft der Kirche, sondern auch eine Frage nach der Seele Europas.

Wenn wir jetzt Gottesdienst feiern, geben wir mit Gottes Hilfe ein wenig Lebensatem, ein wenig Seele weiter. Gott möge uns helfen, eine gute, menschenwürdige und dem Willen Gottes entsprechende Zukunft mit zu gestalten.

[1] Wahrheit und Toleranz. Zum Verständnis des Grundrechts auf Religionsfreiheit, in: Sufficit gratia tua. Miscellanea in onore del Card. Angelo Scola per il suo 70o compleanno, a cura di G. Marengo / J. Prades López / G. Richi Alberti, Venedig 2012, S. 407-424,  hier S. 407-410.

[2] Alle Zitate von Papst Franziskus stammen aus der Rede des Papstes vor dem Europäischen Parlament in Straßburg (25.11.2014) sowie seiner Rede anlässlich der Verleihung des Karlspreises (16.5.2016).