„Bedenke Mensch, dass du Staub bist, und zum Staub zurückkehrst“ (vgl. Gen 3,19). Unter diesem Wort aus dem Buch Genesis steht die Austeilung der Asche. In diesem Jahr berührt mich dieser Satz besonders. Nachdem wir es wirkungsvoll geschafft haben, die Erfahrung des Todes, auch des Alterns und der Krankheit weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verdrängen, rücken uns Krankheit und Tod in diesen Monaten bedrohlich nahe. Wir können sie als zum Leben gehörende Realitäten nicht abschaffen. Bilder von Särgen, die nicht bestattet werden können, haben sich beinahe traumatisch in das Gedächtnis eingebrannt. So etwas kannten wir nicht mehr. Viele Menschen haben noch nie einen Toten gesehen. Als Lehrer und Schulpfarrer habe ich immer wieder mit Eltern darüber diskutieren müssen, ob Kindern die Teilnahme an einer Beerdigung zumutbar sei.
„Bedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst“ – In diesen Monaten haben wir auch immer wieder darüber diskutiert, ob irdisches Leben wirklich der höchste Wert sei, auch als Preis für die Einschränkung von Freiheit, auch unter Inkaufnahme psychischer und ökonomischer Schäden. Rechtfertigt die Sorge um die Bewahrung des irdischen Lebens wirklich die Konsequenz, Menschen einsam sterben zu lassen? Ich las neulich in der Zeitung eine Todesanzeige, die mich sehr nachdenklich gemacht hat. Dort wurde der Tod eines Mannes betrauert, der wohl lange krank gewesen ist. Und dann stand dort dieser Satz: „Seine letzten Jahre waren von der Krankheit geprägt, die letzten Monate coronabedingt von tiefer Einsamkeit“ – und so sei er auch in tiefer Einsamkeit verstorben. Diese Erfahrung mussten viele Menschen machen. Und es lässt sich die Frage in den Raum stellen: Was wiegt schwerer – die körperliche Gesundheit oder dieser Angriff auf die Menschenwürde? Ich reihe mich nicht ein in die Kette der Verharmloser dieser Pandemie, in der wir leben. Aber die Frage, was für uns ein menschenwürdiges Leben bedeutet und welchen Preis wir gegebenenfalls bezahlen wollen, müssen wir stellen und permanent diskutieren.
Der heutige „Aschermittwoch der Künstler“, der weitgehend digital stattfindet, richtet den Blick auf die Bedeutung von Kunst und Kultur für ein gutes Leben, auf die wir nicht verzichten sollten. Was die Begleitung kranker und sterbender Menschen angeht: Ich bin froh, dass es uns zumindest ein wenig gelungen ist, schwer kranke Menschen nicht allein zu lassen. Seelsorgerinnen und Seelsorger sind ihnen nahe gewesen, einige haben sich bereit erklärt, besonders den an Covid-19 Erkrankten beizustehen. Sie haben sich schulen und besonders ausrüsten lassen. Der Vorwurf an mich und an uns als Kirche insgesamt, wir hätten besonders die Kranken, Sterbenden und Trauernden allein gelassen, lastet schwerer auf mir als Debatten über gelungene oder weniger gelungene Gottesdienstübertragungen.
„Bedenke Mensch, dass du Staub bist, und zum Staub zurückkehrst“. Vielleicht ist es eine unbequeme Aufgabe der Kirche, den Menschen an seine Vergänglichkeit und seine Grenzen zu erinnern. Ich lese jüngst in einer Zeitung den Vorwurf gegen die Politik, dass man der Frage nach einer wirksamen Strategie in einer Seuchensituation jahrelang ausgewichen sei, natürlich weil es unbequem ist, sich diesem Thema zu stellen. Ich kann dies nicht beurteilen. Mir ging dann die Frage durch den Kopf: Was müsste zu einer derartigen vorbeugenden Strategie gehören? Klar ist, dass es eine medizinische Vorsorge geben muss, dass wirksame Schritte der Eindämmung überlegt werden müssen – und dies nicht erst, wenn der Katastrophenfall eintritt. Klar ist, dass man die ökonomischen Folgen gut planen und bedenken sollte. Sicher stehen viele Fragen an, die vorher zu klären sind. Die derzeitige Pandemie muss nicht die letzte sein muss, die uns plagen könnte. Mir ging weiter durch den Kopf, dass zur Vorbereitung auf eine solche Situation vielleicht auch gehört, den unangenehmen Themen des menschlichen Lebens nicht länger auszuweichen. Wenn ich lerne, Krankheit, Sterben und Tod als Realitäten zu akzeptieren, bin ich vielleicht anders auf die Begegnung mit ihnen vorbereitet, auch wenn es ethisch geboten ist, Krankheiten vorzubeugen, Leiden zu lindern und medizinische Forschung zu fördern. Immer wieder begegnen uns geradezu messianische Heilsversprechen: Forscher arbeiteten an der Überwindung des Todes, auch durch digitale Weiterentwicklung. Wir lebten dann halt digital ewig. Derartige Visionen sind für mich der blanke Horror. Was bedeutet so eine oder auch in weniger radikalen Vorstellungen verheißene grenzenlose Selbstoptimierung für den Umgang mit den Menschen, die nicht hinterherkommen, mit den Kranken, den Versehrten, den Alten? Es hilft der Menschlichkeit, Leiden und Tod als zum Leben gehörig zu akzeptieren. So bekommt jedes Leben Wert und Würde, so bekommt die endliche Zeit Bedeutung. So lerne ich auch, meine Sterblichkeit zu bejahen, mein Älter- und Schwächerwerden und am Ende den Tod anzunehmen als Erfüllung meiner Tage.
Es scheint mir ein Dienst der Kirche an der Menschlichkeit unserer Gesellschaft zu sein, an die Vergänglichkeit zu erinnern. In meinen Jahren als Priester habe ich es erleben müssen, dass es Proteste gab, wo Hospize gebaut werden sollten. Die Nähe der Sterbenden wirkt sich wohl wertmindernd auf Immobilien aus und schränkt für manchen Menschen die Lebensqualität ein. Ein vorfahrender Leichenwagen wird nicht geduldet. Verdrängung jeglicher Art dient dem Menschen erfahrungsgemäß jedoch nicht. Wir diskutieren über das selbstbestimmte Sterben mit fremder Hilfe und preisen dies als Fortschritt der Freiheit. Gleichzeitig verbannen wir die alten Menschen und die Sterbenden an den Rand. Sehen wollen wir sie nicht. Wird sich dies durch die Pandemie ändern, nachdem die Pflegerinnen und Pfleger beklatscht wurden? Ich melde Zweifel an der Nachhaltigkeit dieses Jubels an. Ich bin in diesem Zusammenhang froh für moderne Einrichtungen auch der Caritas, die die alten Menschen, auch die Sterbenden in die Mitte der Gesellschaft zurückholen, wo es Begegnung mit anderen Menschen aus dem Ortsteil gibt. Die Entlarvung der Illusion, diese Themen beträfen nur die Anderen, dient einer menschlichen Gesellschaft, die den Freitod nicht als Fortschritt preist und auch nicht – wie wir in anderen Ländern sehen – kranken Menschen das Gefühl vermittelt, eine Last für andere zu sein. Ich kann den Freiheitsgewinn nicht erkennen, ohne diejenigen moralisch verurteilen zu wollen, die aus Verzweiflung anderes entscheiden. Unsere Antwort muss sein, Menschen in jeder Lebenslage zu begleiten, und auch die Phase von Krankheit und Sterben mit Nähe und Leben zu füllen.
„Bedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst“. Der Psalm 90 (V. 12) weiß um die alte Erfahrung: „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz“. Die Annahme der menschlichen Endlichkeit macht weise. Sie lehrt, das Leben und die Tage zu lieben, und sie lehrt, Gott zu lieben, der der Ewige ist. Angesichts seiner ewigen, alle Zeiten umspannenden Liebe darf ich schwach sein. Am Ende werde ich mich in seinen Armen wissen, in Krankheit, Sterben und Tod.
„Bedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst“ ist eine realistische Ansage, die jeden Selbstbetrug entlarvt. Sie wird im Buch Genesis gesprochen von einem Gott, der akzeptieren muss, dass die Erde kein Paradies bleibt, aber der den Menschen durch die Geschichte begleitet. Am Ende wird er durch den Sohn zu uns sprechen, der mit uns geht, für uns stirbt, und uns mitnehmen will in seine liebende Ewigkeit. Das ist eine gute Medizin, ja, man könnte es Impfung nennen gegen jede Verzweiflung und Lebensangst, gerade auch in diesen Tagen.