Unsere Heiligen werden abgestaubt – zumindest im Mainzer Dom. Für die Zeit des Orgeleinbaus musste der Marienaltar „umziehen“ und die Figuren des hl. Martin und des hl. Bonifatius, die sonst die Muttergottes, die sog. „schöne Mainzerin“ flankieren, werden in dieser Zeit gereinigt. Sie wurden in den vergangenen Tagen vom Staub der letzten Jahrzehnte befreit, jetzt erstrahlen sie in neuem Glanz.
In unseren Wohnungen gibt es Staubfänger: Gegenstände, die man aus irgendeinem Grund einmal erworben hat, die man schön fand, die dann aber herumstehen, im besten Fall schön aussehen und nach und nach an Bedeutung verlieren. Das kann mit den Heiligen in unserer Kirche ebenfalls geschehen. Und das gilt nicht nur für die Statuen in unseren Kirchen. Die Heiligen insgesamt bedürfen ab und zu eines Abstaubens, eines neuen Blicks auf ihre Bedeutung. Sie dürfen nicht nur der Erinnerung an gute alte Zeiten dienen, sie müssen heute neu zum Strahlen kommen. Heilige sind Menschen, die so gelebt haben, dass sie Christus und sein Evangelium in irgendeiner Weise zum Leuchten brachten. Wenn wir die Heiligen abstauben, sind sie mehr als bloße historische Erinnerung. Sie bringen mich zum Nachdenken, sie begeistern und faszinieren mich. Sie faszinieren mich deswegen, weil ich an der Vielfalt der Heiligen die unglaubliche Vielfalt und den Reichtum des Evangeliums ablesen kann. So müssen wir, wenn wir über Heiligkeit nachdenken, zunächst fragen, auf welche Weise wir Christus und sein Evangelium zum Leuchten bringen können. Wenn ich das Leben eines Heiligen anschaue, will ich diesen einen Menschen nicht kopieren. Ich lasse mich vom Vorbild eines heiligen Menschen, von seiner Begeisterung für Christus anstecken und frage mich, was mein Weg sein kann. Was also fasziniert und motiviert mich, Christus nachzufolgen? Heilige sind Menschen, die etwas von Christus „verstanden“ haben. Dieses eine haben sie in ihrem Leben umgesetzt. Manchmal war es eine Situation, die der heilige Mensch nicht verpasst hat. Mich hat bereits als Kind das Zeugnis des hl. Maximilian Kolbe fasziniert. Sicher war er ein glaubwürdiger Priester und Ordensmann, aber er hat reagiert, als er sich für einen anderen als Todeskandidat angeboten hat. Wenn er damals nicht reagiert hätte, wäre es normal gewesen. Er hat den eigentlichen Augenblick erkannt. Manche haben ihr ganzes Leben einem bestimmten Ideal gewidmet. Franziskus lebt die Armut als seine Herrin, so nennt er sie. Dem armen Christus will er nachfolgen. Martin teilt, und er ist als Mönch und Bischof ein Mann mit einem mutigen Charakter, einer Liebe zu den Menschen und einem großen pastoralen Herzen. Bonifatius stellt sein Leben in die Pilgerschaft und die Verkündigung. Ich habe im Laufe meines Lebens gelernt, dass Gott einen manchmal andere Wege führt als die selbst geplanten. Menschen dienen ihm in der Caritas, der Jungfräulichkeit, der Ehe, der Verkündigung, im Gebet und in der alltäglichen Treue zu ihren Aufgaben. Die Antwort auf die Frage, was denn mein Weg der Nachfolge sein könnte, kann mir niemand abnehmen. Schwierig wird es, wenn einen getauften Menschen diese Frage nicht mehr berührt. Wenn ich den Staub von den Heiligen nehme, verstehe ich, was die hl. Terese von Avila einmal gesagt hat: „Der Herr schaut nicht so sehr auf die Größe der Werke, als vielmehr auf die Liebe, mit der sie getan werden.“ (Gotteslob 98). Mein Blick auf die entstaubten Heiligen ermutigt mich, das, was ich tue, mit größerer Liebe zu tun, aufmerksam für die Herausforderungen des Augenblicks zu sein und mich meinen Aufgaben nicht zu entziehen. Gott hat Großes mit mir vor, er will mich heilig machen. Heiligkeit besteht nicht in großen moralischen oder religiösen Leistungen, sondern in der Aufmerksamkeit für den Willen Gottes auf den Wegen meines Lebens.
Die Heiligen dürfen nicht als Staubfänger in unserer kirchlichen Wirklichkeit dienen. Die Heiligen vom Staub zu befreien heißt, sie als Helfer bei der Erneuerung unserer Kirche zu verstehen. Viele Heilige stehen für den Mut, Probleme in Kirche und Welt offen beim Namen zu nennen. Es ist manchmal der Verdacht geäußert worden, durch eine Heiligsprechung nehme man dem heiligen Mann, der heiligen Frau, auch ihren Stachel, den diese Menschen gegebenenfalls ins Fleisch der Kirche setzen. Durch die Heiligsprechung bemächtige sich die Kirche der prophetischen Botschaft. Dazu darf es tatsächlich nicht kommen. Man kann die Heiligen nicht nur vollstauben lassen, sondern sie auch durch einen zu grellen Heiligenschein ihrer Aussagekraft berauben. Nicht wenige sind die schärfsten Kritiker auch kirchlicher Umstände und Missstände gewesen. Wie sehr etwa kämpft Bonifatius auf seinen Missionsreisen gegen verweltlichte Lebensumstände der Priester und der anderen Gläubigen. Das waren harte Auseinandersetzungen mit harten Worten. Wie deutlich wendet sich eine hl. Birgitta von Schweden gegen Missstände am päpstlichen Hof, und sie hätte sich sicher nicht durch den Vorwurf ruhigstellen lassen, sie solle die Strukturfragen nicht so wichtig nehmen, sondern hintanstellen. Man könnte die Heiligen einmal im Hinblick auch auf das kirchen- und gesellschaftskritische Potential entstauben. Viele Heilige stehen gegen die übliche Haltung: „Das hatten wir noch nie und das brauchen wir nicht“. Das ist ein Satz, der mich seit meinen ersten Priestertagen bis ins Bischofsamt begleitet. Als der hl. Vinzenz Pallotti nach Rom kam, hat er erst einmal die Kirche tagsüber geöffnet. Die Mitbrüder wollten das nicht akzeptieren, weil dann allerhand „Gesindel“ hineinkäme, Schindluder getrieben würde und das ruhige Klosterleben auf dem Spiel stünde. Bisher habe man das auch nicht gebraucht. Der Heilige hat sich nicht überzeugen lassen. Er hat es einfach gemacht. Ein simples Beispiel, das in unserer kirchlichen Praxis nicht selten eine Rolle spielt. Neues denken, sich öffnen, fragen, was Christus wohl wollen würde, wenn er jetzt lebte. Die Evangelien sind gute Ratgeber für das, was er will. Heilige entstauben heißt auch, als Kirche genau und mutig hinzuschauen und nicht zu glauben, die Heiligen bestätigten uns permanent. Heilige rufen zur Erneuerung und zur Umkehr des Herzens, jeden und jede Einzelne sowie die Kirche als Ganze. Sie eignen sich nicht automatisch zur Bestärkung eigener Positionen.
Heilige entstauben heißt, sie als lebendige Weggefährten zu sehen. Sie sind Helferinnen und Helfer, Freunde Gottes, wie wir im Lied singen (GL 542). Sie sind unsere Weggefährten und Gesprächspartner. Sie sind nicht nur Freunde Gottes, sie sind unsere persönlichen Freunde. Es mag kindlich klingen, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie mit mir persönlich gehen. Sie sind Fürsprecher. Damit treten sie nicht in Konkurrenz zum Mittler Christus. Aber so wie Sie, wie wir füreinander beten können, beten sie für mich, davon bin ich überzeugt. Sie beten für mich und für die Welt, für unsere Gesellschaft und die Kirche, auch für das Bistum Mainz. Wenn ich hier im Dom den Schrein der Mainzer Heiligen sehe, glaube ich, dass sie mich und uns sehen. Auf dem Schrein in der Krypta ist ein Heiliger, eine Heilige ohne Gesicht. Bin ich das, sind Sie das? Wir sind Teil dieser Mainzer Heiligen. Heute ist der Zeitpunkt, Heiligkeit zu leben. Es ist Zeit, die Heiligen zu entstauben, nicht nur hier in Mainz in unserem schönen Dom. Es ist Zeit, unseren Glauben zu entstauben, durch ihn Christus zum Leuchten zu bringen. Die Heiligen, die wir heute feiern, mögen uns zu unserem persönlichen Weg der Heiligkeit und der Nachfolge Christi bewegen und ermutigen.