Der Auftrag des Evangeliums an die Amtsträger ist eindeutig: wir sollen die Kleinen groß machen, unsere Verantwortung nutzen, um eine Atmosphäre der Achtsamkeit in der Kirche zu fördern. „Geistliche“, so bezeichnen wir Kleriker oft, haben aber ihre Macht über die Kleinen ausgenutzt, um sie zu missbrauchen.
Kirchlicher Missbrauch wird nicht zuletzt durch die „geistliche Verbrämung“ mancher Taten besonders abstoßend. Schreckliche Zahlen liegen auf dem Tisch, aber es geht nicht um Zahlen, es geht um jeden einzelnen Menschen, der in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten derartiges Leid erfahren musste.
Ich als Bischof habe nun, auch wenn ich erst seit gut einem Jahr Bischof bin, keinen Grund zum Selbstmitleid, sondern habe die Verantwortung für das Bistum Mainz angenommen und damit auch für die von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen. Im Bistum reden wir über 169 Betroffene in den vergangenen 70 Jahren. Sie sind Teil der Wirklichkeit dieses Bistums, genau wie die seit 1946 beschuldigten Priester, Diakone und Ordensleute. Im Bistum Mainz waren es in diesem Zeitraum 53 Beschuldigte.
Nehmen wir das Gebet aus dem Lukasevangelium ernst, dann gilt es spätestens jetzt, vom Thron zu steigen und die Kleinen, die uns anvertraut sind, groß zu machen, sie zu schützen und ihnen eine Atmosphäre anzubieten, in der sie ihre Würde entfalten können.
Die Studie verdeutlicht, ohne dass sie plakative Lösungen anbietet, dass viele Taten auf Machtmissbrauch zurückgehen, der wiederum auf ein bestimmtes katholisches Amtsverständnis zurückzuführen ist. Papst Franziskus spricht von Klerikalismus. Dieser zeigte sich auch in dem Bestreben der Verantwortlichen, das System Kirche, also den eigenen Machtapparat, zu erhalten, und die Opfer zum Schweigen zu bringen.
Vorstellungen der katholischen Sexualmoral können eine Tabuisierung oder Verteufelung bestimmter Themen verursachen. Die Kirche steht (hoffentlich) vor einem gewaltigen Perspektivenwechsel. Der Blick in die Studie und die Beschäftigung mit den betroffenen Menschen zwingen uns in einen notwendigen Lernprozess, bei dem wir in zahlreichen Fragen ganz am Anfang stehen.
Es wird Zeit, die Niedrigen zu erhöhen und als Priester und Bischof nicht zu versuchen, wieder auf den Thron zu steigen. Es ist konsequent, auch über die Ausgestaltung und Machtbefugnisse des Bischofsamtes nachzudenken und manche gewachsene Praxis kritisch zu reflektieren.
Es muss alles Menschenmögliche getan werden, um derartige Verbrechen zu verhindern. Betroffene müssen gehört werden, ihnen muss Begleitung angeboten werden. Beschuldigte sind der weltlichen Gerichtsbarkeit zuzuführen, und die kirchlichen Leitlinien, die keine Verjährung derartiger Taten kennen, konsequent einzuhalten. In unserem Bistum gibt es vom Bischof und der Bistumsleitung unabhängige Ansprechpersonen. In den vergangenen Jahren sind die in der Seelsorge Tätigen, auch die Ehrenamtlichen, in Kursen präventiv geschult worden. Von allen liegt ein polizeiliches Führungszeugnis vor. In unser Präventionskonzept müssen nun die Ergebnisse der MHG-Studie einfließen. Ich bin froh, dass wir seit Jahren in der Priester- und Theologenausbildung im Priesterseminar die Frauen und Männer aus den unterschiedlichen seelsorglichen Berufsgruppen auf weite Strecken hin gemeinsam ausbilden, so dass die Gefahr der Bildung klerikaler Männerbünde geringer ist.
Mit markigen Worten ist in der derzeitigen Situation niemandem geholfen. Wir müssen jetzt auf verschiedenen Baustellen neu zu arbeiten beginnen: an theologischen Themen, am kirchlichen Selbstverständnis, am Verhältnis zwischen geweihten und nichtgeweihten Gläubigen, an der Morallehre der Kirche, an der Prävention, an der Gesprächsbereitschaft gegenüber den Betroffenen und den Hilfemaßnahmen, an der Begleitung und Auswahl unserer Priesterkandidaten und Personen anderer seelsorglicher Berufsgruppen. Der Mangel darf uns nicht verleiten, die Ansprüche herunter zu schrauben, ganz im Gegenteil. Die Sensibilität für Fragen des Missbrauchs und der angemessene Umgang mit Betroffenen müssen zu einer Grundhaltung in der Kirche werden. An der Kultur der Achtsamkeit können alle mitarbeiten. Die Betroffenen kann ich als Bischof nur um Vergebung bitten!