Die Liebe und auch die Trauer geht nicht ins Leere

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf im Pontifikalrequiem zu Allerseelen im Hohen Dom zu Mainz am Montag, 2. November

Herbstweg (c) Bistum Mainz
Datum:
Mo. 2. Nov. 2020
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Wie wird es sein, dort im Himmel, in der Ewigkeit Gottes? Zu den berührendsten Szenen der christlichen Literatur gehört der Bericht des Augustinus über die gemeinsamen letzten Tage mit seiner Mutter Monika in der Hafenstadt Ostia bei Rom.

Augustinus hatte sich in Mailand taufen lassen zur Freude seiner christlichen Mutter, und nun sind sie beide auf dem Heimweg in die nordafrikanische Stadt Tagaste. Eines Abends stehen sie beide am offenen Fenster und sprechen über die Frage, wie es wohl im Himmel sein werde. Aus den Worten wird eine tiefe Glaubenserfahrung. Die Worte verstummen, und – so beschreibt es Augustinus in seinen „Bekenntnissen“ – der Geist geht über das Sichtbare und Materielle hinaus in eine kurze und doch alles verändernde Erfahrung. Sie dringen ein in die Gegenwart Gottes, und sie streifen sie „leise in einem vollen Schlag des Herzens“, so Augustinus Formulierung. Es wird beiden klar: der Himmel ist mit nichts Irdischem zu vergleichen, es ist ein Eintauchen in das wirkliche Leben, in die Wirklichkeit Gottes, die alles irdisch Vorstellbare übersteigt. In der Sehnsucht nach dem ewigen Leben werden beide einen Herzschlag lang von dieser Wirklichkeit berührt – eine Erfahrung, die nur schwer in Worte zu fassen ist. Es wird größer, gewaltiger, schöner, als alles, was Menschen sich in ihrer Phantasie ausmalen können. Augustinus kommt in seinen Schriften immer wieder auf dieses Thema zu sprechen. Aber er entwirft kein Bild des Jenseits, sondern er versucht, Gott zu betrachten, ihn zu beschreiben, denn Himmel ist nichts anderes als das Eintauchen in seine ewige Liebe und Herrlichkeit. Es ist wohl notwendig und menschlich, dass wir uns Bilder vom Himmel machen. Aber wir sollten uns immer klar machen, dass es Bilder sind: „Der Himmel ist kein  (…) Wonnegarten, kein Schlaraffenland.“1 Gott selbst ist der Himmel für die, die ihn lieben. Daher ist die Sehnsucht nach ihm, die Suche nach seiner Wahrheit, die Liebe zu ihm, dem ewigen Gott, der Weg, der Menschen in diesen Himmel führt. Gott wird mit herrlichen Bildern beschrieben: Er ist Licht, Duft, Liebe, Schönheit. Lange Jahre ist Augustinus auf manchen Irrwegen auf der Suche nach diesem Gott. Er macht die Erfahrung, dass nicht er Gott suchte, sondern Gott die ganze Zeit auf der Suche nach ihm war: „Du riefst, du schriest, und du durchbrachst meine Taubheit.“ Und: „Siehe, du warst in meinem Innern, und ich war draußen und suchte dich dort. (…) Du warst bei mir, aber ich war nicht bei dir.“2 Wie blass ist dagegen manche Vorstellung über das sog. Jenseits, die sich Menschen machen. Dieser Gott brennt in Sehnsucht nach dem Menschen, der Mensch muss die Ohren und das Herz öffnen.

Immer wieder äußern sich Menschen, dass sie gar nicht ewig leben wollen. Das kann auch an der Vorstellung liegen, die sie sich von Ewigkeit machen. Die Vorstellung, dass alles so weitergeht, wie es jetzt ist, ist ihnen geradezu eine Schreckensvision. Tatsächlich wäre es das auch für mich: immer so weiter, ohne Ende – da wäre die Verheißung Jesu, dass er ewiges Leben schenkt, wirklich keine erfreuliche Nachricht. Es kann tatsächlich sein, dass Menschen so lebenssatt oder gar –müde sind, dass ihnen schon die irdische Zeit genügt, und dann auch noch eine Ewigkeit? Augustinus hätte diese Einstellung vielleicht nicht verstanden, er hätte sicher darauf verwiesen, dass es nicht um ewige Langeweile geht, sondern eben die Erfahrung eines ewigen Augenblicks wirklichen Lebens, Lichtes, Schönheit, Liebe und tiefster Gemeinschaft. Er hätte allerdings auch verstanden: Wer sich nicht nach Gott sehnt, nach Liebe, für den ist der Himmel kein erstrebenswertes Ziel. Wir sollten in unserer Verkündigung alles daran setzen, diesen Gott bekannt zu machen, Geschmack an ihm zu machen. Dann wird die Vorstellung eines ewigen Lebens eine geradezu unglaubliche Hoffnungsperspektive.

Wenige Tage nach der Gotteserfahrung in Ostia stirbt Monika, sie wird Nordafrika nicht mehr erreichen. Vor ihrem Tod bittet sie ihren Sohn, ihrer immer am Altar zu gedenken. In Gott bleibt die Gemeinschaft zu denen, die wir lieben. Der autobiographische Teil endet mit dem Tod der Mutter und der tiefen Trauer des Sohnes, trotz des festen Glaubens an die Gemeinschaft über den Tod hinaus und das ewige Leben in Gott. Wer glaubt, darf trauern. Es lohnt sich, die Zeilen des Augustinus zu hören, mancher mag darin eigene Trauersituationen wiedererkennen: „Ich drückte ihr die Augen zu, und es floß mir in der Brust gewaltiges Weh zusammen und floß über zu Tränen.“3 Augustinus kann aber nicht weinen, er ist kurz vor dem inneren Zusammenbruch. „Man trug die Leiche fort, wir gingen mit hin, wir gingen zurück – und ohne Tränen.“ Selbst bei den Gebeten am Grab ist er unfähig zu weinen. Er fleht zu Gott, endlich weinen zu können, und endlich, als er allein ist, „ließ ich die Tränen los, die ich zurückgehalten, daß sie strömten, wie sie wollten. Ich bettete mein Herz darin, und es ruhte in ihnen, weil da nur deine Ohren waren, nicht die eines Menschen, der mein lautes Weinen kalt-stolz aufgenommen hätte. So ruhe sie denn in Frieden.“ Augustinus lebt in der festen Hoffnung, mit ihr verbunden zu sein, dass sie nun erst in Wahrheit zur Mutter wird, weil sie in der Heimat angekommen ist. „Die irdische Elternschaft weitet sich in die himmlische.“ Augustinus selbst wird weiterleben in der Erwartung der wahren Mutter, dem Himmel, und dem wahren Vater, Gott selbst, denen er einst begegnen wird.

Eine Geschichte von Glauben, Hoffnung, Trauer, Liebe, im Leben und über den Tod hinaus. Ich erkenne manche Erfahrung meines Lebens darin wieder. In diesen Tagen werden viele zu den Gräbern ihrer Lieben gehen, sich erinnern, trauern, hoffen und lieben. Diese Liebe und auch die Trauer geht nicht ins Leere. Da ist dieser Gott, der damals in Ostia Augustinus und Monika einen Herzschlag lang berührt. Vielleicht wird manchen auch am Grab eines geliebten Menschen eine solche kurze Berührung geschenkt, der Augenblick einer Ahnung, dass da jemand ist, der an die Tür des Herzens klopft und darauf wartet, neu entdeckt zu werden. Ihm kann ich meine Trauer anvertrauen, er schaut nicht kalt-stolz auf uns nieder. Das sage ich in diesem Jahr der Pandemie auch im Gedenken an die Toten, von denen sich Trauernde nicht persönlich verabschieden oder der Trauer angemessen Ausdruck verleihen konnten. Das sind furchtbare Situationen, die bei vielen tiefe Wunden gerissen haben. Wir hoffen auf ein ewiges Leben und eine ewige Gemeinschaft mit ihnen. Gott wird am Ende jede Träne abwischen und keine Hoffnung enttäuschen. Der heutige Tag möge eine Ermutigung sein, auf die Suche nach dem wahren Leben zu gehen, und sich finden zu lassen von diesem Gott, der näher ist als wir ahnen.

1 Zitate nach Ernst Dassmann, Augustinus. Heiliger und Kirchenlehrer, Stuttgart, Berlin, Köln 1993, 73f.

2 Aus den Bekenntnissen, zitiert aus Lektionar zum Stundenbuch II/7, 228-230.

3 Vgl. Ernst Dassmann, Augustinus, 84f.