Jünger Jesu sein bedeutet, bei Jesus in die Lehre zu gehen. Die Zwölf, zu denen der Fischer Petrus gehört, sind über lange Zeit mit Jesus unterwegs. Sie hören, was er sagt, sie sehen, wie er betet, sie erleben, wie er mit Menschen umgeht. In dieser Lebensschule lernen sie, seine Themen zu ihren Themen zu machen, sich mit ihm in die Beziehung zum Vater hineinnehmen zu lassen und mit Jesus den anderen Menschen liebevoll zu begegnen. Damit sind wohl wichtige Kennzeichen auch des Jüngerseins heute angedeutet: Jesus kennenlernen, mit ihm den Vater im Himmel kennenlernen und mit ihm den Menschen begegnen. Bis heute stehen wir staunend vor der Entschiedenheit, mit der Petrus seinen Betrieb und seine Familie zurücklässt, um Jesus zu folgen. Nicht von jedem von uns wird eine derartige Radikalität erwartet. Aber wir werden zunehmend ein Christentum werden müssen, zu dem sich Menschen aus eigener Entscheidung bekennen. Es genügt nicht mehr, Christ zu sein, weil man in unserer Gesellschaft eben Christ ist. Warum Petrus so schnell gefolgt ist, wissen wir nicht. Aber warum er geblieben ist, sagt er an einer Stelle selbst: „Du allein Herr hast Worte des ewigen Lebens" (Joh 6,68). Für mich bedeutet dies, eine persönliche Antwort auf die Frage geben zu müssen, warum ich denn Jesus folge, was mich an ihm begeistert, was mich an ihm fasziniert, warum ich bei ihm bleibe. Ganz persönlich genügt es nicht für mich, dass ich als Priester und Bischof eben in seinem Dienst bin. Auch ich muss immer wieder die Frage beantworten: Was fasziniert dich an diesem Jesus, in dessen Diensten du stehst? Das kann sich je nach Situation verändern. Im Augenblick fasziniert mich die Menschenfreundlichkeit Jesu, aber auch seine Konsequenz, die nicht danach schielt, wie er von anderen beurteilt wird. Es gibt für mich keinen glaubwürdigeren Menschen als Jesus, den ich auch als Sohn Gottes bekenne. Da ist nichts falsch, nichts oberflächlich, nichts gespielt. Er lebt ganz aus der Beziehung zum Vater. Das fasziniert mich im Augenblick, und ich ringe damit, was das für mein Leben in der Nachfolge bedeutet. Dabei macht es Jesus Petrus nicht leicht. Als er vom Kreuz spricht, von der Konsequenz seiner Liebe zum Vater, möchte Petrus das verhindern und muss sich hart zurechtweisen lassen. Jesus steht und geht unbeirrbar in seinem Auftrag, den er vom Vater im Himmel bekommt. Wie Petrus auch muss ich übersetzen, was das für mich bedeutet. Ich muss mich zu diesem Jesus Christus positionieren und jeder/jede muss dies, wenn wir uns als seine Jüngerinnen und Jünger verstehen. Was bedeutet uns Jesus? – Die Antwort auf diese Frage muss jeder/jede Einzelne ganz persönlich geben. Petrus gibt seine Antwort: Er ist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes (Mt 16,16). Für das Christsein heute kommen wir an einer persönlichen und glaubwürdigen Antwort nicht herum. Da genügt es nicht, auf Traditionen zu setzen, sondern die alten Bekenntnisse müssen ins eigene Leben übersetzt werden. Jünger und Jüngerin sein bedeutet auch heute, bei Jesus in die Lehre zu gehen, sich von ihm faszinieren zu lassen. Der Glaubensweg ist dabei nicht geradlinig. Petrus droht im Wasser zu versinken, als er zweifelt, er ist ein Mann großer Worte und eines manchmal verzagten Herzens. Darin ist er mir oft sehr nahe. Und wie Petrus müssen wir uns heute immer fragen, ob unsere Themen wirklich auch die Themen Jesu sind.
Petrus ist der Mann mit dem Schlüssel. Er soll binden und lösen im Auftrag Jesu. Darin kommt seine herausragende Stellung in der Kirche zum Ausdruck, aber Binden und Lösen ist Auftrag der ganzen Kirche bis heute. Man kann dieses Bild vielleicht so übersetzen, dass es Auftrag der Kirche ist, Menschen das Himmelreich aufzuschließen, ihnen die Tür zu Gott und seinem Reich zu öffnen. Das Jahr hier in Worms steht unter dem Motto „aufgeschlossen". Immer wieder ist damit dieser kirchliche Auftrag aktualisiert worden, zuletzt noch im Gottesdienst am Rheinland-Pfalz-Tag. „Binden und lösen" – ich möchte das heute so übersetzen: Menschen etwas Verbindliches anbieten, etwas, was das Leben reich macht, was Orientierung schenkt; dabei für eine Botschaft stehen, die Freiheit schenkt, die löst aus unmenschlichen Bindungen. Dafür soll die Kirche heute auch stehen. Ich glaube, dass wir mit dem Evangelium eine solche Botschaft haben, die solche Bindung an jemanden ermöglicht, an Gott ermöglicht. Gott möchte ein wirklicher Beziehungspartner sein, der dem Menschen Liebe und Zuwendung schenkt. Die Bindung an Gott soll Orientierung schenken, indem sie Maßstäbe setzt, die jeder Mensch braucht. Niemand kann bindungslos leben, die Frage ist nur, an wen oder was sich jemand bindet. Bindung an Gott schenkt Freiheit. Wir brauchen heute Menschen, die davon zeugen, dass der Glaube an Gott ein Leben in Beziehung und Freiheit ermöglicht. Der Schlüsselträger Petrus steht für einen solchen Glauben, der zeigt, dass Freiheit nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden darf. Völlig orientierungslose Freiheit kann die Hölle für Menschen und eine Gesellschaft sein. Den Menschen immer wieder den Blick auf Gott hin öffnen – das bleibt Auftrag der Kirche bis heute. Ich frage mich, ob dies die Menschen heute mit unserer Kirche verbinden: Orientierung und Freiheit. Ich glaube, dass wir mit unserer Botschaft Orientierung geben können, aber viele Menschen suchen die Antworten nicht mehr bei uns. Das hat sicher viele Ursachen, aber ein Grund mag auch darin liegen, dass kirchliche Antworten als etwas empfunden werden, die weit weg sind von den Themen und Fragen der Zeit. Und Freiheit? Ich habe den Glauben als einen freien Glauben, ein Geschenk, kennengelernt – Gott sei Dank. Aber mancher erzählt auch von Erfahrungen eines Glaubens, der nichts von Freiheit und Schönheit atmet. Das scheint mir eine der großen Herausforderungen unserer Zeit zu sein, dass wir einen Glauben anbieten, der Orientierung schenkt („binden"), der aber gleichzeitig Leben in Freiheit ermöglicht („lösen").
Petrus verleugnet Jesus. Am Hochaltar hier im Dom wird er dargestellt im Moment, als er seinen Verrat erkennt, mit dem Hahn an der Seite. Petrus ist nicht perfekt, kein Held, nicht zum Märtyrer geboren. Als er sein Versagen erkennt, weint er bitterlich. Wir wissen nicht sehr genau, wie Petrus später als Seelsorger und Apostel gewesen ist, einiges erzählt die Apostelgeschichte. Aber ich stelle mir vor, dass er dieses Versagen nie vergessen hat. Er hat die Barmherzigkeit Jesu am eigenen Leib erfahren. Dreimal hat er Jesus verleugnet, dreimal fragt Jesus ihn nach seiner Auferstehung: Liebst du mich? (Joh 21,15-19). Und er bekommt den Auftrag, im Namen Jesu Hirte zu sein. Mit dieser Erfahrung glaube ich, dass er wusste, was Versagen, Vergebung und Barmherzigkeit für Menschen bedeuten, und dass dies seinen Umgang mit anderen Menschen prägte. Wir müssen als Kirche gut achtgeben, dass wir ein Raum sind und bleiben, in dem das geknickte Rohr nicht gebrochen, und der glimmende Docht nicht ausgelöscht wird durch liebloses Urteil und Verurteilung.
In der Schule Jesu hat Petrus so viel gelernt. Er nimmt uns mit in diese Schule. Die Petrusgemeinde in Worms möge eine solche Christusschule sein und bleiben: eine Schule des Glaubens, der Orientierung und Freiheit, der Liebe und Barmherzigkeit.