Drei Eigenschaften, die zum göttlichen Frieden gehören

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf
 beim Gottesdienst zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs ,Kirche Sankt Bernhard, Speyer, 18.00 Uhr

Bischof Peter Kohlgraf (c) Bistum Mainz
Datum:
Sa. 8. Mai 2021
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Noch immer leben wir in der Pandemie. Sie wird uns noch lange beschäftigen. Allerdings sollten wir über den eigenen Tellerrand hinausblicken. Papst Franziskus nimmt in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 2021 die sich verschärfenden Krisen in den Blick.

Die Corona-Pandemie enthüllt drastisch die Unterschiede zwischen den reichen und den armen Ländern. Derzeit blicken wir voll Sorge nach Indien und sehen schmerzlich das Massensterben und die brutale Not der Menschen dort, um nur ein Beispiel zu nennen. Verschärft haben sich die „Klima-, Ernährungs-, Wirtschafts- und Migrationskrisen“ (Papst Franziskus). Wir denken an die Not an den Grenzen Europas und die fatale Politik der Abwehr notleidender Menschen. Wenn ich manchmal in Gesprächen gefragt werde, ob ich unter der Pandemie leide, dann werde ich sehr still angesichts der bitteren Not weltweit, aber natürlich auch angesichts der Not vieler Menschen in unserem Land. Nicht nur das Virus verbreitet sich global. Auch der Einsatz für den anderen Menschen, der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit muss globale Dimensionen annehmen. In diese Situation hinein spricht der Papst in „Fratelli tutti“ hoffentlich nicht vergeblich seine Mahnungen zu einer globalen Kultur der Solidarität, ja zu einer globalen Freundschaft und Liebe, nicht nur zwischen einzelnen Menschen, sondern auch als Ziel einer um den Frieden bemühten Politik. 
Jeden Tag begegnen uns die Probleme dieser Welt und ihrer Menschen in den Nachrichten. Natürlich gibt es viel Menschlichkeit; das darf nicht verschwiegen werden. Aber genauso begegnen uns neuer Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Und ich reibe mir verwundert die Augen: Statt die Pandemie und die verschiedenen Krisen als Aufruf zu Frieden und Solidarität zu verstehen, wird weltweit aufgerüstet. Großbritannien, so lese ich, plant nach einem Bericht des „Spiegel“ vom März eine massive atomare Aufrüstung. Ähnliches in den USA, Russland, und auch in Staaten Europas. „Die Aufrüstung gerät außer Kontrolle“, resümiert „Die Zeit“ in einem Artikel im vergangenen Jahr (29. Mai 2020). Angesichts dieser Entwicklungen mögen manche den Papst und seine Friedensbotschaft von der universalen Liebe für naiv halten. Dennoch lohnt es sich die Frage zuzulassen: Wollen wir wirklich Frieden so verstehen, dass es vorwiegend aus Angst vor den Waffen der anderen nicht zu einer militärischen Eskalation kommt? Das kann nicht die Vision einer friedlichen Welt sein, in der man die anderen mit seiner Stärke abschreckt. Misstrauen wird nie die Grundlage für einen echten Frieden bilden können. 
Ich bleibe an einem Satz Jesu aus dem Johannesevangelium hängen: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht, wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch.“ (Joh 14,27) Was hat es mit diesem göttlichen Frieden auf sich, und worin unterscheidet er sich vom Frieden, wie diese Welt ihn versteht? Wir erleben, wie diese Welt Frieden definiert und praktiziert: Sie will Streit verhindern durch Androhung von Gewalt; sie sitzt fest in einer Spirale des Misstrauens, in der jeder den anderen belauert; sie meint, Frieden entstehe durch Stärke. Bereits die römischen Kaiser verstehen ihre „Pax Romana“ genauso. Die Provinzen wurden gnadenlos wirtschaftlich ausgebeutet, durch militärischen Druck wurden Auseinandersetzungen und Aufstände unterdrückt. Ein allgegenwärtiger Staat sah nur wenige seiner Bürgerinnen und Bürger als freie Persönlichkeiten. Noch 400 Jahre nach Christus hatten die Menschen des römischen Reiches die Hoffnung auf Frieden allein durch den Schutz der römischen Waffen. Der Preis war „blinder Gehorsam“, die Menschen beteten für den Sieg der römischen Waffen, auch die Christen des Reiches. In einer solchen Atmosphäre der Machtpolitik und der Drohungen wächst auch Jesus auf. Er stirbt als vermeintlicher Aufrührer. Das römische System hat gesiegt, der Frieden ist gesichert. Das ist wohl der „Frieden dieser Welt“, der nicht dem Frieden entspricht, den Gott geben will.

Zum göttlichen Frieden gehören viele Eigenschaften. Drei will ich heute hervorheben: 

Die erste ist die aktive Friedensarbeit aller. Jesus übergibt seinen Frieden seinen Jüngerinnen und Jüngern, und er erwartet offenbar, dass sie zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieses Friedens werden. Dazu gehört sicher, immer wieder den Finger in die Wunden zu legen, die der Scheinfrieden schlägt. Es fängt bei uns in der Kirche an. Erleben Menschen bei uns, dass die Friedensbotschaft, die Botschaft von der Würde eines jeden Menschen mehr ist als eine schöne Formulierung auf dem Papier? Dass Menschen die Kirche auch als ein Macht- und Gewaltsystem erlebt haben und auch noch erleben, darf uns nicht zur Ruhe kommen lassen. Ich wiederhole ausdrücklich, was ich anderenorts auch gesagt habe: Es hilft uns nicht, diese Erfahrungen zu bestreiten. Die Betroffenen, die ihre Erfahrungen formulieren, halten uns den Spiegel vor. Es ist nicht an uns, deren Erfahrungen bestreiten oder relativieren zu wollen. Erst wenn wir diesen österlichen Frieden ohne Gewalt selber leben, werden wir gegebenenfalls zu glaubwürdigen Boten des Friedens in die Welt hinein. Die Menschen spüren sehr wohl, ob wir nur reden und mahnen – oder ob uns dieser Friede bewegt und erfüllt. Aktive Friedensarbeit: Damit verbinden sich viele Haltungen und eine alltägliche Praxis. Es geht um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, um Wertschätzung und Achtung jedes Menschen. Es geht um eine wertschätzende Sprache, um das Bemühen, anderen Menschen ohne Vorurteile und Verurteilungen zu begegnen. Das darf keine Angelegenheit von Expertinnen und Experten sein. Es betrifft die persönliche, zwischenmenschliche Ebene. Und es muss auch die Ebene einer Politik sein, die den Anspruch erhebt, sich aus christlichen Werten zu speisen. Der Papst macht deutlich, dass Friedensarbeit alle Ebenen betreffen muss. 
Die zweite Eigenschaft ist die Sicht auf den anderen Menschen, ihn als Kind Gottes, damit als Bruder oder Schwester zu sehen, als Gottes Ebenbild, das von Gott zum Leben gerufen ist. Das Christentum spricht von der Liebe zu allen, und selbst wenn es schmerzen mag, von der Liebe zum Feind. Natürlich stellt sich bald die Frage: Kann man damit Politik machen? Zumindest kann man die Politik und das eigene Verhalten kritisch überprüfen, welche Motivation denn sonst leitend sein solle. Die Gewalt und das Säbelrasseln können es wohl nicht sein, der Hass und die Verachtung anderer wohl ebenfalls kaum. Auch wirtschaftliche Interessen gegenüber anderen Menschen oder Völkern bilden noch keine menschengemäße Grundlage der Begegnung. Der Papst entfaltet die Grundlage ausführlich in „Fratelli tutti“, zusammenfassen lässt sich das Bemühen um den göttlichen Frieden mit den Stichworten der „Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft.“ Das ist eine Grundlage für den Frieden, der nicht von dieser Welt ist. 
Die dritte Eigenschaft liegt an diesem Tag nahe: die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Versöhnung. Die Erfahrung des Krieges war für viele Menschen der Anlass, dem früheren Feind die Hand zu reichen. Daraus sind tiefe Freundschaften entstanden. Versöhnung heißt nicht, das Geschehene unter den Teppich zu kehren, sondern sich der Wahrheit und der eigenen Verantwortung zu stellen. Die katholische Friedensbewegung pax christi ist das Ergebnis einer solchen Versöhnung zwischen Franzosen und Deutschen, aus der in den vergangenen Jahrzehnten viel Gutes entstanden ist. Durch die Wahrheit sind aus Feinden Freunde geworden, und an dieser Freundschaft gilt es zu arbeiten. Mittlerweile ist uns die internationale Freundschaft unverzichtbar geworden. Ich erinnere an die Versöhnung auch zwischen Polen und Deutschland, die großmütig von polnischen Gläubigen ausging. Derartige Versöhnungsprozesse auch aus christlicher Motivation sind weltweit segensreich und fruchtbar geworden. Papst Franziskus erinnert dankbar an die Prozesse in Südafrika und zitiert die Bischöfe: Wahre Versöhnung erreiche man nur proaktiv, dadurch, dass „man eine neue Gesellschaft formt, die auf dem Dienst am Nächsten gründet, anstatt auf dem Wunsch zu dominieren; eine Gesellschaft, die darauf beruht, dass man mit dem anderen teilt, was man besitzt, anstatt dass jeder egoistisch um den größtmöglichen Reichtum kämpft“ (FT 229). Da ist auch bei uns hierzulande noch viel Arbeit zu tun. 
Ein Friede, den die Welt allein nicht geben kann, den hinterlässt uns Christus. Er ist Gabe und Aufgabe für uns. Möge der Auferstandene alle Bemühungen um wahren Frieden fördern und segnen. 

1 Vgl. Eberhard Schockenhoff, Frieden auf Erden? Weihnachten als Provokation, Freiburg i. Br. 2019, 21f. 
2 Vgl. Werner Dalheim, Die Welt zur Zeit Jesu, Berlin 2017, 159-161.