Pfingsten steht für Einheit statt Spaltung, Vielfalt statt Gleichmacherei, Menschenwürde für alle statt nationaler Egoismen, Selbstbescheidung statt Größenwahn, Frieden statt Gewalt und Krieg. Selten zuvor sind solche Erzählungen so heftig als naiv kritisiert worden, scheinen sie doch weit entfernt von der heutigen irdischen Wirklichkeit. Die Starken haben das Sagen, diejenigen, die anderen zeigen, wer der Stärkere ist.
Eine Welt mit Menschen, die sich verstehen, die eine Sprache sprechen, in der es darum geht, gemeinsam diese Erde menschenwürdig zu gestalten, in der die verschiedenen Kulturen nicht als Konkurrenz, sondern als Reichtum verstanden werden: Was könnten Menschen dann gemeinsam erreichen? Das Buch Genesis erzählt uns von einer solchen Menschheit. Es blickt zurück in die Anfänge der Menschheit. Die Menschen haben den Auftrag, diese Erde als Ebenbilder Gottes mitzugestalten. Wenn sie zusammenhalten würden, ihre Begabungen und Grenzen akzeptieren, könnte das gelingen. Gott selbst scheint dann eine Ahnung davon zu entwickeln, dass die Menschen ihre großen Begabungen nicht zum Wohl dieser Erde nutzen. Offenbar ahnt er, dass eine Menschheit, die mit Technik, Kultur und Geisteskraft begabt ist, eines Tages Gott vergessen könnte. So planen die Menschen, wie es in der alten Erzählung heißt, einen großen Turm zu bauen, um sich einen Namen zu machen, um sich an die Stelle Gottes zu setzen. Die Folge ist Sprachverwirrung, Zerstreuung, und die Menschen hören auf, einander zu verstehen und an der einen Aufgabe mitzuarbeiten.
Viele kennen noch die Geschichte vom „Turmbau zu Babel“ (Gen 11). Die Geschichte danach wird zu einer Abfolge von Kriegen, Selbstüberschätzung, Gottvergessenheit und nationalem Egoismus. Andere werden zu Feinden. Die Bibel erzählt also kein Märchen aus ferner Vergangenheit, sondern versucht zu ergründen, warum diese doch so gut geschaffene Welt so ist, wie sie ist. Das Gegenbild zur Verwirrung der Menschheit bildet die Pfingstgeschichte. Menschen aus aller Welt, aus allen Sprachen und Kulturen finden zusammen, indem sie beginnen, sich zu verstehen, weil ihnen das Evangelium verkündet wird. Die Völker, die in der Pfingstgeschichte genannt werden, bilden die gesamte damalige Welt ab. Sie hören die Apostel, obwohl sie aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachen kommen, das Evangelium verkünden. Pfingsten stellt die gottgewollte Weltordnung wieder her: Menschen unterschiedlicher Völker und Kulturen sehen sich nicht mehr als Feinde, unterschiedliche Sprachen stehen der Begegnung und Verständigung nicht mehr im Wege. Die Botschaft von dem einen Gott, der die Menschen geschaffen hat und liebt und der sich in Jesus Christus offenbart hat, ermutigt sie, sich ihrer Würde als Ebenbilder Gottes zu besinnen und als Menschen die Gestaltung dieser Welt zu einer menschenfreundlichen Einheit neu in die Hand zu nehmen.
Pfingsten steht für Einheit statt Spaltung, Vielfalt statt Gleichmacherei, Menschenwürde für alle statt nationaler Egoismen, Selbstbescheidung statt Größenwahn, Frieden statt Gewalt und Krieg. Selten zuvor sind solche Erzählungen so heftig als naiv kritisiert worden, scheinen sie doch weit entfernt von der heutigen irdischen Wirklichkeit. Die Starken haben das Sagen, diejenigen, die anderen zeigen, wer der Stärkere ist. Das gilt ja nicht erst seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine. Bereits vorher hatte Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ zur geschwisterlichen Solidarität aller Menschen die Weltlage entsprechend beschrieben (10f.):
„Jahrzehntelang schien es, dass die Welt aus so vielen Kriegen und Katastrophen gelernt hätte und sich langsam auf verschiedene Formen der Integration hinbewegen würde. So ist zum Beispiel der Traum eines geeinten Europas vorangeschritten, der fähig war, die gemeinsamen Wurzeln anzuerkennen und sich zugleich über die in ihm wohnende Verschiedenheit zu freuen. Erinnern wir uns an »die feste Überzeugung der Gründungsväter der europäischen Union […], die sich eine Zukunft wünschten, die auf der Fähigkeit basiert, gemeinsam zu arbeiten, um die Teilungen zu überwinden und den Frieden und die Gemeinschaft unter allen Völkern des Kontinentes zu fördern« (…) Doch die Geschichte liefert Indizien für einen Rückschritt. Unzeitgemäße Konflikte brechen aus, die man überwunden glaubte. Verbohrte, übertriebene, wütende und aggressive Nationalismen leben wieder auf. In verschiedenen Ländern geht eine von gewissen Ideologien durchdrungene Idee des Volkes und der Nation mit neuen Formen des Egoismus und des Verlusts des Sozialempfindens einher, die hinter einer vermeintlichen Verteidigung der nationalen Interessen versteckt werden. (…) Das Gute, ebenso wie die Liebe, die Gerechtigkeit und die Solidarität erlangt man nicht ein für alle Male; sie müssen jeden Tag neu errungen werden. Unmöglich kann man sich mit dem zufriedengeben, was man in der Vergangenheit erreicht hat, und dabei verweilen, es zu genießen.“
Der pfingstliche Zusammenhalt ist nicht nur ein Geschenk, er muss jeden Tag neu erarbeitet werden, und dazu fehlt oft der Wille. Wir leben nach einer Zeitenwende, wie die Politiker sagen. Sie markiert den Übergang von einer Zeit des Friedens in eine neue Zeit, in der wir scheinbar aufrüsten, die Waffen gegeneinander richten, klare Kante zeigen, Grenzen ziehen, das eigene Feld verteidigen, den Feind klar benennen müssen. Das gilt für die Kriegsthematik, das gilt für andere Menschen und für das ganze Feld von Flucht und Migration. Es ist mehr der Turmbau zu Babel als die Pfingstgeschichte, die wir erleben.
Ich gebe zu, keine einfachen Antworten zu haben, denn die Veränderung ist Wirken des Geistes, nicht der gute Wille des Menschen allein. Die Bibel gibt keine einfachen Antworten auf tagesaktuelle und parteipolitische Fragen. Sie lädt aber zum Nachdenken, zur Selbstkritik. Nun ist die Pfingstgeschichte kein Blick auf die Menschheit als Ganzes, so naiv ist die Bibel nicht. Aber sie glaubt an die Kraft Gottes, dass es eine Gemeinschaft in der Welt gibt, die nicht Turmbau spielt, sondern Einheit in Vielfalt, Vielfalt in Einheit lebt und gestaltet. Pfingsten erinnert an die Kirche als Weltkirche und feiert sie, und wir selbst sind ein Teil dieser weltweiten Gemeinschaft.
Ich höre noch die Stimme einer protestierenden Frau nach einer Diakonenweihe in Mainz, die sofortige Frauenweihe forderte, und die noch vor meiner Erwiderung ausrief: „Kommen Sie mir jetzt nicht mit der Weltkirche.“ Tatsächlich kann dieser Hinweis in allen Reformbemühungen und Bemühungen um ein Gespräch der Kirche mit unserer Kultur und Gesellschaft ein Totschlagargument sein. Von einigen Menschen und Gruppen wird die Weltkirche als Bremserin in ihren Vorstellungen erlebt. Auf der anderen Seite können wir in Deutschland nicht unsere kirchlichen Bemühungen für alle zum verbindlichen Maßstab machen. Auch in der Kirche herrscht manchmal mehr Babel als Jerusalem. Derzeit läuft die Weltsynode, der Versuch, die vielen Glaubenszugänge in ein Gespräch und ein Miteinander zu bringen. Weltkirche ist jedoch nicht nur Bremserin. Ich erinnere daran, dass auch im Bistum Mainz 25% der Gläubigen und der Priester zu Gemeinden anderer Muttersprache gehören. Sie sind ein Reichtum unseres kirchlichen Lebens, sie bringen andere kulturelle und christliche Erfahrungen mit, sie stellen manchmal unsere Selbstverständlichkeiten infrage, sie dürfen nicht Fremde bleiben. Als Bischof erlebe ich die Weltkirche immer wieder als großen Reichtum. Bei einem internationalen Kongress berichten Frauen aus Südamerika, dass die Kirche dort der einzige Ort ist, an dem die Menschenrechte gelebt werden. Auch das ist weltkirchliche Wirklichkeit. Der weltsynodale Prozess hat gezeigt, dass viele die Kirche in Westeuropa und ihre Themen als problematisch empfinden, während andere bezeugen, dass sie genau die gleichen Themen bewegen. Die katholische Kirche in Deutschland ist nicht auf dem Weg zu einer Nationalkirche, wie manche meinen. Wir bringen uns ein ins weltweite Gespräch, weil dies seit Pfingsten zum Wesen der Kirche gehört. Die Einheit ist ein großer Schatz, der nicht aufs Spiel gesetzt werden darf, aber Einheit bedeutet nicht Uniformität. Einheit muss Vielfalt aushalten. Das lernen wir hoffentlich weltweit, aber auch in unserer Kirche, in unserem Bistum hier. Die Pfingstgeschichte sieht die Kirche als Modell, wie die Menschen insgesamt miteinander leben könnten. Christinnen und Christen stehen dann gegen Spaltung, gegen Feindbilder, gegen Egoismus und Einteilung der Menschen in höherwertige und minderwertige Gruppen. Die Kirche und eine bessere Welt ist Werk des Geistes Gottes, aber wir sind nicht unbeteiligt. Heute sind wir eingeladen, nicht am Turm von Babel, der Spaltung, der Gewalt und Feindschaft mitzuwirken, sondern an Jerusalem: der Einheit, der Gewaltlosigkeit und der einen Sprache, in der Menschen versuchen, einander zu respektieren und zu verstehen. Wir haben so viele Möglichkeiten. Neben allen menschlichen Bemühungen um eine gute Welt ist es wohl auch die Zeit, die Sorge des Buches Genesis ernst zu nehmen: Wie leicht vergessen die Geschöpfe ihren Schöpfer. Gott will uns neu die Freude an seiner Gegenwart schenken. Er ist im Geist bei uns, und er kann das Angesicht der Erde erneuern. Dazu gebe er uns seinen Segen.