"... Ein derartiger Sterbe- oder Veränderungsprozess ist nicht der Tod der Kirche. Ich bin fest von den Möglichkeiten Gottes überzeugt. Die Entwicklung von Gläubigen zu selbst-handelnden und betenden Menschen kann ein Schritt in die richtige Richtung sein. Und: Selbst ein ehrlicher Umgang mit den Verbrechen in der Kirche und ihrem Versagen birgt in sich die Chance auf eine menschenfreundlichere Form und eine tiefere Geschwisterlichkeit aller Gläubigen, ja auch mit allen Menschen. Wer leugnet, dass derartige Vorfälle irgendetwas auch mit systemischen Fragen zu tun hat, will es wohl nicht wissen. Wenn ein Soziologe den endgültigen Tod der Kirche in zwanzig Jahren prophezeit, wäre ich bereit, eine Wette abzuschließen, die ich gewinnen werde. Es wird die Kirche geben, aber anders. ..."
„Die Zeit der leeren Kirchen – Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens“ heißt ein Buch des Prager Priesters und Theologen Tomas Halik. Er hat dort Predigten zusammengestellt, die im Lockdown während des Osterfestkreises im vergangenen Jahr entstanden sind. Immer noch sind die Predigten aktuell und weisen in vielem über die Pandemie hinaus.
Tomas Halik berichtet von einem Phänomen, das wir bei uns auch kennen. Aus der Erfahrung der geschlossenen Kirchen entsteht eine große Kreativität: Menschen feiern selbst Hausgottesdienste in kleinem Kreis. Das gemeinsame Priestertum wird so verwirklicht; oft sprechen wir davon ja nur im Hinblick auf Leitungsfragen in der Kirche. Menschen geben vor anderen Zeugnis über ihren Glauben ab, sie beten mit anderen. Und bestimmt haben viele Menschen in diesen Monaten gemerkt, dass es tatsächlich nicht peinlich sein muss, den Glauben mit anderen zu leben. Menschen aus meinem Bekanntenkreis berichten von der neuen Erfahrung, mit den Kindern und dem Partner, der Partnerin Gottesdienste entwickelt zu haben, etwa eine häusliche Gründonnerstagsliturgie oder eine Osternachtfeier mit Licht und der Verkündigung des Evangeliums. Diese positive Entwicklung bleibt hoffentlich über die Pandemie hinaus erhalten. Ich bin davon überzeugt, dass diese Hausgottesdienste keine Konkurrenz zum Gemeindegottesdienst sein müssen. Zu tief sitzt in vielen Menschen die Sehnsucht nach Feier, nach Gemeinschaft, nach Festlichkeit, nach Begegnung und Stärkung durch andere.
Tomas Halik sieht die Kirche in starken Veränderungsprozessen. Dabei geht es um viel Tieferes als die Strukturdebatten im Rahmen von Gemeindefusionen oder Vermögensverwaltung, die uns emotional oft so sehr in Anspruch nehmen. Eine uns geläufige Gestalt von Kirche stirbt, so drastisch muss man es sagen. Und eine neue Gestalt, die tragfähig ist, hat noch nicht Gestalt angenommen. Viele unserer Diskussionen – auch bei uns im Bistum – gehen nicht in die Tiefe, sie bleiben bei Äußerlichkeiten stehen. Dennoch glaube ich, dass viele unserer Gläubigen, die ehrlich hinschauen, die Dramatik der Situation erkennen. Wir sollten nicht zu viel Energie und Kraft in die sicher notwendigen Strukturen stecken. Vielmehr sollten wir den laufenden Prozess geistlich gestalten, indem wir an einer überzeugenden und den Menschen zugewandten Form der Kirche arbeiten, die dem Sendungsauftrag des Evangeliums gerecht wird. Ein derartiger Sterbe- oder Veränderungsprozess ist nicht der Tod der Kirche. Ich bin fest von den Möglichkeiten Gottes überzeugt. Die Entwicklung von Gläubigen zu selbst-handelnden und betenden Menschen kann ein Schritt in die richtige Richtung sein. Und: Selbst ein ehrlicher Umgang mit den Verbrechen in der Kirche und ihrem Versagen birgt in sich die Chance auf eine menschenfreundlichere Form und eine tiefere Geschwisterlichkeit aller Gläubigen, ja auch mit allen Menschen. Wer leugnet, dass derartige Vorfälle irgendetwas auch mit systemischen Fragen zu tun hat, will es wohl nicht wissen. Wenn ein Soziologe den endgültigen Tod der Kirche in zwanzig Jahren prophezeit, wäre ich bereit, eine Wette abzuschließen, die ich gewinnen werde. Es wird die Kirche geben, aber anders.
Was sind notwendige Kennzeichen einer neuen Form von Kirche? Da gäbe es viel zu sagen: Der Umgang mit Macht über andere muss verändert werden, viele ersehnen zutiefst eine geschlechtergerechte Kirche, eine Kirche, die auch denen zugewandt ist, die nicht ihrem Ideal entsprechen, eine Kirche, die das nachahmt, was Jesus von sich sagt: „Ich will alle an mich ziehen“ (vgl. Joh 12,32) – und niemanden abstoßen. Das bedeutet keine Beliebigkeit der kirchlichen Botschaft. Allerdings sehe ich ihre Bedeutung nicht im Verurteilen einzelner Menschen oder Gruppen, sondern im Einsatz gerade für die Schwachen und die Menschen am Rande. Diese Themen beschäftigen uns zu Recht. Es muss gegen alle Vorurteile gesagt werden: Es geht nicht um eine billige Anpassung an irgendwelche Moden. Es geht um den Menschen und das Ernstnehmen des Evangeliums. Tomas Halik beschreibt weitere Kennzeichen einer heutigen Gestalt der Kirche: Er beschreibt einen Weg, der sich von Folklore verabschiedet und Menschen zu einem eigenständigen Glauben, einem erwachsenen und reflektierten Glauben befähigt. Es gilt, die geistliche Dimension anzusprechen, die viele Menschen in sich tragen; es gilt, Menschen zu begleiten und sie zu ihrem Weg des Glaubens und der Nachfolge zu befähigen. Es gilt, noch mehr eine Kirche zu werden, die die Zeichen der Zeit versteht und nicht wegwischt. Wir werden nicht umhinkommen, immer mehr eine Theologie und Verkündigung zu entwickeln, die sich im Gespräch mit allen Menschen bewährt, gerade auch mit Gebildeten und Wissenschaftlern, und die überzeugen kann. Das nimmt selbstverständlich auch die Bischöfe in die Pflicht. Alle, die sich um die Kirche und ihren Auftrag sorgen, müssen besser die Absicht verstehen, was es bedeutet, eine Kirche zu sein, die hinausgeht, und die nicht nur Türen öffnet für die Menschen, die kommen. Die Pandemie ist hoffentlich für viele Menschen eine Zeit, in der sie neu nach den Quellen suchen, oder in der sie spüren, was an ihrem Glauben folkloristisch ist und in einer derartigen Krise nicht mehr trägt.
Für viele Menschen sind digitale Formen des Gottesdienstes wichtig geworden. Tomas Halik hat sich in seiner Hochschulgemeinde in Prag bewusst dagegen entschieden, Eucharistiefern zu übertragen. Man kann geteilter Meinung sein. Aber sein Einwand scheint mir wenigstens bedenkenswert, auch wenn wir selbst aus dem Dom die Kar- und Ostergottesdienste streamen werden. Sakramente haben mit Nähe, mit Gemeinschaft zu tun. Das Herrenmahl funktioniert irgendwie nicht digital, der Priester kommuniziert stellvertretend oder auf dem Bildschirm als einziger. Nun haben wir wenigstens in diesem Jahr eine kleine Präsenzgemeinde. Aber es bleibt natürlich eine Not-Form. Viele feiern diese Gottesdienste jedoch innerlich bewegt mit. Daher halte ich sie trotz aller Vorbehalte für legitim und auch hilfreich. Dennoch: Ich kann die Sorge nicht verhehlen, dass es bei manchem auch von der lebendigen Mitfeier zu einer Konsumierung gekommen ist, dass sich Menschen der Sakramente entwöhnen. Es geht ja auch im Sessel ganz gut. Und damit meine ich nicht die Menschen, die wegen Alter oder Krankheit nicht aus dem Haus kommen, für sie waren diese Angebote ja immer schon gedacht. Aber was bedeutet es für die sakramentale Struktur der Kirche, wenn Menschen merken sollten: Ich brauche die Eucharistie eigentlich gar nicht, es geht ja auch so?
Wir weihen heute die Heiligen Öle: das Öl für die Menschen auf dem Weg zur Taufe, die „Katechumenen“, das sie stärken und vor dem Bösen schützen soll; das Krankenöl, das die heilende und vergebende Nähe Gottes im Leid berührbar und erfahrbar werden lässt; und den Chrisam, mit dem die Neugetauften, die Firmlinge sowie die Priester bei der Weihe gesalbt werden. Die Salbung bestärkt den Priester zu seinem Dienst an den Menschen als ihr Diener und als Diener Christi, der nicht herrschen, sondern dienen wollte. Die Chrisamsalbung erinnert die Getauften und Gefirmten an ihre priesterliche, königliche und prophetische Würde. Sie ermutigt zu dem besagten erwachsenen Glauben. Niemand ist eine Kopie eines anderen, auch nicht im Glauben. Sinnlicher geht es nicht als in diesen sakramentalen Salbungen. Die Öle erinnern uns daran, dass Glaube immer auch analog, sinnlich, in Gemeinschaft gefeiert werden muss. Eine rein digitale Kirche wird es bei allen Chancen hoffentlich nicht geben.
Ich danke allen für ihren Einsatz für eine präsente Kirche in diesen Zeiten: den Priestern und Diakonen, den Seelsorgerinnen und Seelsorgern, aber genauso allen Getauften und Gefirmten, welche die Kirche und das Evangelium zu den Menschen bringen, digital, aber hoffentlich auch analog und berührbar. Sie arbeiten mit an einer Kirche, die lebt und leben wird. Danke, und auf dem Weg Gottes Segen!