Die Begegnung mit glaubenden Menschen früherer Jahrhunderte ist immer eine Begegnung mit dem Fremden, mit einer fremden Welt, einer fremden Mentalität, auch einer fremd gewordenen Glaubenspraxis. In der Begegnung mit dem Fremden wird manches in Frage gestellt, was uns heute scheinbar so selbstverständlich ist.
Wir dürfen auch einen Heiligen wie Heribert nicht einfach in unsere Zeit stellen, dennoch stellt er uns Fragen. So fremd uns vielleicht ein vor tausend Jahren verstorbener Bischof und Heiliger sein mag, so aktuell sind die Fragen, die uns aus seiner Zeit in unserer Welt erreichen. Heribert lebt an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend; er besucht die Wormser Domschule, wird Dompropst in Worms, nimmt einer steile politische Karriere, bekleidet gleichzeitig geistliche und weltliche Machtpositionen. Im Jahr 999 wird er Erzbischof von Köln. Es wird berichtet, er sei demütig und barfüßig in Köln eingezogen. Offenbar hatte er ein Gespür für die Zerbrechlichkeit menschlicher Machtansprüche. Unter anderem gründet er die Abtei Deutz, nach seinem Tod beginnt bald seine Verehrung als Heiliger.
In den Köpfen vieler Menschen heute lebt die Vorstellung vom finsteren Mittelalter. Kreuzzüge, Ketzerverfolgung, Armut und Pest, eine intolerante mittelalterliche Kirche, und manche andere Vorstellung geht um. Natürlich hat diese Zeit dunkle Züge. Angesichts zweier Weltkriege, einer Judenvernichtung nie gekannten Ausmaßes, einer weltweiten Christenverfolgung und religiöser Intoleranz und vieler anderen Erfahrungen unserer scheinbar so aufgeklärten modernen Zeit sollten wir uns vor derartigen Urteilen hüten. Das Mittelalter zur Zeit Heriberts ist auch die Zeit einer Wissenschaftsrevolution[1], einer geistigen Erneuerung, einer religiösen Blüte der Klöster und einer starken Zuwendung zu den Armen.
Heribert scheint aus der Region um Worms zu stammen. Er besucht dort die Domschule, wie es sie ähnlich an vielen Kathedralorten gab. Diese Domschulen waren tatsächlich in der Bildungslandschaft revolutionär. Ähnlich wie in den Klosterschulen lernten die Schüler den damaligen Bildungskanon kennen. Das Ziel war die Heranbildung eines gelehrten Klerus. Menschen sollten für Leitungsämter in Kirche und Reich qualifiziert werden. Auch Schüler aus armen Schichten wurden aufgenommen. Heute würden wir sagen: Neben theoretischem Wissen lernten sie auch praktische Kompetenzen. Grundlage waren Texte aus der Tradition der Kirche, Bibel, Philosophie und anderen Wissenschaften. Tradition wurde dabei nicht nur verstanden als Weitergabe von musealem Wissensbestand, sondern man wollte Tradition fortschreiben. Die Domschulen, auch in Worms, waren Orte eines intellektuellen Klimas. Texte der Tradition wurden dabei durchaus kritisch kommentiert. In diesem Klima wird Heribert groß. Wir können uns ihn als eine Persönlichkeit mit großem Wissen, praktischen Kompetenzen und einer ausgeprägten Neugier vorstellen. Natürlich ist die Situation nicht „eins zu ein“ übertragbar. Aber wir sind heute auf der Suche nach einer Gestalt kirchlicher Theologie, Lehre und Verkündigung auf der Höhe der Zeit. Schnell werfen bestimmte Kreise heutigen Bischöfen „Zeitgeistigkeit“ oder „Anpassung an den Zeitgeist“ vor. Eines kann man sicher sagen: Für Heribert waren Zeitgeistigkeit und die Treue zu Evangelium und Tradition kein Widerspruch.
[1] Vgl. Frank Rexroth, Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters, München 2018, bes. 44-53; Martin Kintzinger, Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter, Ostfildern 2003.
Heute begegne ich zwei Extremen: Zum einen der Versuchung zu meinen, wir erfinden alles neu, auch in der Kirche; zum anderen der Haltung, Tradition sei ausschließlich eine Art Museum, in dem wir Überliefertes unveränderlich bestaunen. Heribert würde uns vielleicht kritisch fragen: Lebt ihr aus dem großen Atem der langen Tradition der Kirche und seid gleichzeitig fähig zu einer pädagogischen und theologischen Wissenschaftsrevolution? Er würde sich wohl über manche Dummheit von „rechts“ und „links“ in der Kirche und auch über manche Ängstlichkeit sehr wundern. Und vielleicht würde Heribert fragen: Wie gelingt es euch, Tradition und „Zeitgeist“ zusammen zu denken und voneinander zu lernen? Heribert hätte sich wohl sehr geärgert über Tendenzen, von einer kleinen, reinen Herde der Rechtgläubigen zu träumen.
Die religiöse Vorstellungswelt von vor tausend Jahren ist uns fremd, und doch begleiten uns diese Traditionen und Vorstellungen. Die Welt ist damals klar zweigeteilt: Diesseits und Jenseits, Gläubige und Ungläubige, Erlöste und Verworfene. Die mittelalterliche Kunst stellt diese Welten dar. Die Trennwand zwischen Himmel und Erde ist sehr dünn. Glaubende Menschen wissen sich als Teil einer Gemeinschaft von Heiligen, Engeln und Menschen. Die Welt ist klar geordnet, Glauben ist die Annahme dieser göttlichen Ordnung und ein Handeln nach den göttlichen Gesetzen. Bei aller Klarheit: Die Zeitgenossen Heriberts sind fest überzeugt vom grundsätzlichen Heilswillen und der Barmherzigkeit Gottes gegenüber allen Menschen[1]. Er glaubt an die Möglichkeit einer Bekehrung jedes einzelnen Menschen. Das Mittelalter denkt groß. Innerer Glaube, der Empfang der Taufe und die christliche Lebenspraxis bilden die Einheit auf dem Weg zum ewigen Heil. Glaube ist lebensrelevant, würden wir heute sagen. Und dennoch weiß jeder und jede, dass die Sünde unvermeidbar ist. Dabei vertraut der Glaubende auf Gottes Barmherzigkeit. Das detaillierte Bußsystem des Mittelalters schreckt uns heute ab. Aber im Zusammenwirken zwischen Gott und dem Sünder besteht zu jedem Zeitpunkt und in jeder Lebenssituation Hoffnung auf ewige Erlösung. Der demütige Amtsantritt Heriberts ist daher mehr als eine Inszenierung. Gerade der Mächtige, der viel Verantwortung trägt, ist sich seines Heils nicht gewiss. Das macht ihn demütig und reiht ihn ein in die Schar aller Sünderinnen und Sünder.
Wir reden viel über Macht in der Kirche, und das ist gut und sinnvoll. Man kann dies in gesellschaftswissenschaftlichen und psychologischen Kategorien tun. Heribert erinnert uns, auch mich als Bischof, an eine ganz andere Instanz: Am Ende werde ich als Bischof Rechenschaft ablegen müssen über mein Leben und meine Amtsführung vor einem höheren Richter. Er allein ist der Herr, nicht der Bischof. Das Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit würde uns, davon bin ich fest überzeugt, insgesamt liebevoller im Umgang mit den Schwächen des anderen Menschen machen. Der Ton ist auch innerhalb der Kirche unbarmherzig, lieblos und bitter. Heribert würde sich darüber wundern, ohne Schuld klein zu reden. In der Theologie sind wir heute vorsichtiger in der Zweiteilung der Welt. Aber bereits der heilige Augustinus wusste darum, dass es nicht unsere Aufgabe ist, die Spreu vom Weizen zu trennen. Heribert würde uns fragen, wie lebensrelevant der innere Glaube ist. Das Bewusstsein der Einheit zwischen Himmel und Erde ist mehr, als ein wenig „guter Mensch sein“. Kirche ohne Gott, ohne den Himmel, ist nicht denkbar, schon gar nicht sinnvoll. Kirche ist aber ebenfalls etwas völlig anderes als ein Verein, in den man eintritt oder nach Bedarf austritt. Die zugesagte Treue Gottes in der Taufe bleibt – ein Leben lang. Heribert hätte sich über manche ausschließliche Diesseitigkeit unserer kirchlichen Praxis sehr gewundert.
Bis heute erinnern wir uns an die von Heribert gegründete Abtei als eine geistliche Quelle, nicht nur des Mittelalters. In den Klöstern wurde diese Einheit von Himmel und Erde gelebt, sie waren Zentren
der Bildung, des Gebets und der Nächstenliebe. Dass in unserer Zeit Klöster sterben, hätte Heribert wohl traurig oder sogar zornig gemacht. Wir müssen uns auf die Suche machen nach geistlichen Orten, Zentren, in denen Menschen fähig gemacht werden, einen gebildeten Glauben mit festen Wurzeln zu entwickeln. Das muss mehr sein als satzhaftes Glaubenswissen. Manche unserer kirchlichen Orte und Gemeinden sind solche Quellen nicht mehr. Es ist nicht leicht, das zu akzeptieren. Wir müssen hier nach neuen Wegen suchen. Es ist dabei gut, dass wir auch für das Thema des geistlichen Machtmissbrauchs sensibel geworden sind. Solche geistlichen Orte können nicht von Menschen gelebt werden, die schon immer wussten, was für andere gut ist. Geistliche Wege müssen gefördert werden, aber in dem Sinne, dass es so viele Wege zu Gott gibt, wie es Menschen gibt (Papst Benedikt XVI.). Dass die Kirche unter Heribert auch eine Kirche mit einem großen Herzen für die Kranken, die Hungernden und die Armen gewesen ist, bleibt ein Ansporn für heute.
Heribert, der heilige Erzbischof, verbindet heute die Diözesen Köln und Mainz, die historisch in einer gewissen Konkurrenz standen. Die Suche nach einer zeitgemäßen, gottgewollten, wirklich einladenden geistlichen und menschenfreundlichen Form der Kirche möge uns verbinden. Gott möge uns segnen und führen.
[1] Vgl. Hans-Werner Goetz, Gute und schlechte Christen. Religiöse Vorstellungswelten um das Jahr 1000, in: Volker Gallé (Hrsg.), „Über den Gebrauch der Vernunft“. Theologie, Philosophie und Kunst im Zentrum Europas um 1000, Worms 2020, 17-55.