Gott geht mit den Menschen durch die Geschichte. Das gilt für die ganze Menschheit, die er nie ganz aus seinen Händen gelassen hat. Das gilt für mein persönliches Leben, das von ihm begleitet wird. Er lässt uns nie allein. Gerade in diesen Tagen ist der Blick in die große Geschichte Gottes mit den Menschen eine sehr tröstliche Botschaft.
Es gibt Höhen und Tiefen, aber nie sind die Menschen allein gelassen. Die Texte des Gründonnerstags schlagen diesen weiten Bogen in die Geschichte der Menschheit, in die Geschichte des Volkes Israel, in die Geschichte Jesu und in meine ganz persönliche Lebensgeschichte. Es ist eine merkwürdige Geschichte, die uns das Buch Exodus erzählt. Da lebt ein Volk in der Sklaverei. Plötzlich meldet sich eines Tages aus dem Dornbusch und im Gespräch mit Mose nicht irgendein Gott, sondern der Gott der Väter, den die Menschen längst vergessen hatten. Die Menschen vergessen den Gott ihrer Väter und Mütter, aber er vergisst die Menschen nicht. Menschen leben heute gut ohne Gott, aber Gottes Interesse an den Menschen lässt nicht nach. Menschen wollen oder können nicht mehr glauben, aber Gott glaubt an die Menschen. Anders als die Götter der alten Welt erwählt Gott die Menschen und bindet sich an sie. Wenn sie untreu sind, bleibt er doch treu. Er erwählt gerade die Schwachen, die Versklavten, die Mutlosen und sagt ihnen, dass er sie befreien wird. Wir kennen dann die unglaubliche Erzählung von der Befreiung aus Ägypten. Zu ihr gehört diese ganz altertümliche Erzählung vom Blut des Lammes, das den Tod von den Häusern abhält. Im gemeinsamen Mahl feiern die Israeliten die Befreiung, sie essen das Lamm, verbinden sich mit seinem Blut und können so in die Freiheit aufbrechen. Jedes Jahr feiern die Juden bis heute dieses Pessach, diese Befreiung, die Erwählung, das Leben. Christen schließen sich als die jüngeren Geschwister der Juden dieser Befreiungsgeschichte an. In jeder Eucharistie halten auch sie Mahl, essen das Osterlamm, feiern ihre Befreiung, ihre Erwählung, die Hingabe des Lammes, durch das Leben kommt. Juden wie Christen stehen in dieser großen Treue Gottes, durch Höhen und Tiefen, in Leid und Glück, auch bei Verrat und Glaubensabfall. Gott bleibt beim Menschen.
Es ist keine Geschichte von damals. Die jüdische Familie feiert das Pessach wie vor zweitausend Jahren und ist sich sicher, dass sich Gott ihr auch heute als befreiender Gott zuwendet. Jeder und jede Einzelne ist dabei, als Gott das Volk befreit, durch die Wüste ins Gelobte Land führt. Wenn auch ich mich persönlich in diese Geschichte einreihe, wenn ich unsere Eucharistiefeier als eine solche Feier der Befreiung verstehe, werde ich mit noch größerer Ehrfurcht die alten Texte und die sakramentalen Zeichen verwenden und mich beschenken lassen. Wir machen nicht die Liturgie, wir treten hinzu, wir lassen uns beschenken. Wir empfangen nicht heiliges Brot, sondern empfangen die Hingabe des Lammes, das für uns Christus selbst ist. Zeichen und Texte sind nicht einfach austauschbar, wie wir es manchmal zu tun geneigt sind, um aktueller zu sein. Einen Lebensbezug stellen wir nicht her, indem wir Liturgie alltäglich oder gar banal machen, sondern indem wir die Befreiungstat Gottes annehmen und in unser Leben hineinnehmen. Die alten Zeichen beginnen am Pessachabend in jede Zeit neu zu sprechen: Im Mahl des Lammes erfahren die Menschen Zuwendung, Befreiung und schließlich auch Sendung. Christus verstärkt die alte Erzählung: Seine Hingabe schenkt Freiheit und Leben über den Tod hinaus. Und nicht nur den Menschen allgemein, sondern mir persönlich wendet Gott sich zu. Ich persönlich bin Teil dieser Geschichte, Gott wird für mich ein Gott für heute.
Von Anfang an, spätestens seit der Befreiung aus Ägypten ist Glaube keine Privatsache mehr, sondern bindet eine Gemeinschaft zusammen. Wir sind gemeinsam auf dem Weg, wir teilen unsere Erfahrung, auch die Erfahrung dieses befreienden Gottes. In den letzten Monaten haben Menschen die Erfahrung gemacht, wie gut es ist, wenn andere mit ihnen sind, oft ohne viele Worte – und wie hart es ist, alleine zu sein. In Gottesdiensten digital und analog haben Menschen ihre Fragen, ihre Klagen und Hoffnungen ausgedrückt. Manchmal frage ich mich, warum es oft erst zu einer solchen Notsituation kommen muss, damit sich Menschen auch im Glauben gemeinsam auf den Weg machen. Wie viele kommen nicht mehr zu unserer Gemeinschaft – und wir gewöhnen uns daran. Viele sagen vielleicht, sie müssten doch nicht in die Kirche gehen, um gute Menschen sein zu können. Und das stimmt möglicherweise. Doch um wieviel mehr geht es, wenn wir zum Gebet und zur Eucharistie zusammenkommen. Gott ruft in eine Gemeinschaft, in der wir uns tragen und stützen sollen, in der der Arme zu seinem Recht kommt, der Schwache gestützt wird, der Trauernde getröstet, der Kranke besucht, der Einsame Gemeinschaft findet, kurzum: eine Gemeinschaft, die die Liebe Christi weitergibt. Warum werden unsere Gemeinden so nicht mehr erlebt? Es geht doch nicht darum, ein bisschen Moral zu predigen oder ein guter Mensch zu sein. Es geht im letzten darum, die Erfahrung zu teilen, dass Gott sich an uns Menschen bindet und wir nie allein auf dem Weg sind.
Die biblische Geschichte wird meine persönliche Geschichte, darum geht es, heute, aber auch an jedem Tag. Geschichte der Befreiung, der Erwählung, Erfahrung eines Gottes, der mit mir geht, mit uns geht. In Christus wird Gott unsere Speise auf dem Weg, er wäscht uns die Füße – so wichtig sind wir ihm. An einem solchen Abend sage ich: „Danke, dass ich glauben darf“. Und ich bin trotz mancher Erfahrung dankbar für die Gemeinschaft der Glaubenden, deren Teil ich bin und bleibe.