Am Anfang der Predigt steht für mich ein persönlicher Dank. Queere Menschen haben bald nach meiner Bischofsweihe von sich aus den Kontakt mit mir gesucht. Von ihnen habe ich einen veränderten Blick gelernt. Wir reden nicht über irgendeine abstrakte „Lehre vom Menschen“, wenn wir als Kirche sprechen und ich mich als Bischof äußere. Ich rede über konkrete Menschen und ihr Leben, und hoffentlich zunächst mit ihnen. Ich habe gelernt: Wir wollen als Kirche mit Menschen, nicht über Menschen reden. Nicht ich stehe hier im Mittelpunkt, und dennoch will ich persönlich werden. Ein wichtiger Lernschritt war für mich zu erkennen, welche Verletzungen Menschen in der Kirche und durch die kirchliche Lehre und Praxis erfahren haben und erfahren. Ich nenne Beispiele: Im Katechismus wird grundsätzlich die Wertschätzung gegenüber homosexuellen Menschen gefordert, aber konkret werden sie, ihr Leben und ihre Beziehungen unter dem Urteil der schweren Sünde bewertet. Menschen mit anderen queeren Orientierungen kommen gar nicht vor, die Kirche ist hier immer noch sprachlos. Aber es gibt sie, aber es gibt sie in der kirchlichen Lehre eben nicht.
Mit Überzeugung habe ich daher den Texten des Synodalen Weges zugestimmt, die hier eine Neubewertung formulieren und konkrete Konsequenzen erwarten. Ich wünsche mir eine Kirche und eine Verkündigung, die Menschen und ihre Lebenswirklichkeit wahrnimmt und in ihrer Vielfältigkeit ernst nimmt und wertschätzt. Ich erschrecke manchmal über mich selbst. Ich denke an meine Kirchenerfahrungen in Kindheit und Jugend zurück, und ich bin seit 30 Jahren im kirchlichen seelsorglichen Dienst. Für mich verbinden sich damit positive Erinnerungen. Ich erschrecke insofern, dass ich die Kirchenerfahrung anderer nicht wahrgenommen habe. Das gilt z.B. für so viele im kirchlichen Dienst, die mit ihrer Beziehung in ein Doppelleben gedrängt wurden; das gilt für viele, deren Leben nur als Sünde bewertet wurde und wird, so viele, die sich verstecken oder über die hinter ihrem Rücken geredet wird. Es ist für mich auch ein Stück Versagen als Seelsorger im Dienst eines Gottes, dessen Ebenbild alle Menschen sind. Niemand ist ein Schadensfall der Schöpfung, alle sind geliebt, Gott hat sie alle so gewollt. Nicht erst durch #Outinchurch ist uns doch bewusstgeworden, dass auch Seelsorgerinnen und Seelsorger betroffen sind und in eine Lebenslüge gedrängt wurden, die durch Verantwortliche nicht wahrgenommen werden wollte oder bewusst in Kauf genommen wurde. Damit muss Schluss sein. Ja, Verantwortliche in der Kirche sind schuldig geworden, zu ihnen gehöre ich auch. Und sehr bewusst wird mir, was es bedeutet, schuldig zu werden nicht nur durch das Tun des Bösen, sondern durch das Unterlassen des notwendig Guten. Ich will bewusst Verantwortung übernehmen. Und wir müssen Schritte gehen zur Gestalt einer Kirche, die alle Menschen einlädt, bei ihr die Erfahrung eines liebenden Gottes machen zu können.
Wir Bischöfe arbeiten an der Veränderung der Grundordnung des kirchlichen Arbeitsrechts. Es wird uns deutlich, dass die Last der Loyalität nicht denen aufgebürdet werden kann, die die queer sind, sondern wir müssen gemeinsam in unseren Einrichtungen positiv beschreiben, wofür wir stehen. Zu diesem katholischen Profil gehören alle Menschen in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit. Die Fokussierung auf die geschlechtliche Identität und Orientierung und die konkrete Partnerschaft als beinahe einziges Kriterium für Loyalität zur Kirche ist eher beschämend und schafft keine Klarheit. Eine neue Grundordnung braucht deswegen Zeit, weil die Formulierungen auch in anderen Themen Rechtssicherheit schaffen müssen.
Etwas ironisch darf ich bemerken: Menschen aus der queeren Community und ich als Bischof haben eine Gemeinsamkeit. Demonstrantinnen und Demonstranten bei der letzten Vollversammlung der Bischöfe in Fulda drohen ihnen und mir gleichermaßen mit Fegefeuer und Hölle, wenn wir die kirchliche Lehre kritisch kommentieren oder gar anfragen. Als ich vor einigen Monaten einen wertschätzenden Text über queere Menschen veröffentlich hatte, erreichten mich Rücktrittsforderungen nicht nur aus Deutschland. Dahinter steht auch ein steinbruchartiger Umgang mit der Heiligen Schrift. Es finden sich Textstellen, die nicht-heterosexuelle Beziehungen verurteilen. Exegeten sagen uns, dass es hier um Formen der Sexualität geht, die Zeichen der Unterordnung und Ausdruck der sexualisierten Gewalt und Erniedrigung sind. Tatsächlich gibt die Bibel nicht auf alle Fragen Antwort, weil sich viele Fragen zu der Zeit ihrer Entstehung einfach nicht stellten. Am Rande bemerkt: Bei einer derartigen Bibelverwendung müssten Ehebrecher gesteinigt, Blutwurst gemieden und Kinder geschlagen werden. Wir müssen die Offenbarungskonstitution des II. Vatikanums ernst nehmen. Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, sie ist Gottes Wort im Menschenwort, und es gilt, in den zeitbedingten Aussagen das für uns Gültige herauszuschälen.
Für mich bleibt es eine erschütternde Erfahrung, dass die Verurteilung von queeren Menschen für manche in der Kirche zur eigentlichen Kernfrage des Katholischseins mutiert. Dazu muss ich gar nicht in randständige Internetforen und deren Kommentarspalten blicken. Ich sage es deutlich: Wenn ich in die Evangelien schaue, entscheiden nicht die sexuelle Identität und Orientierung und eine ihr folgende Lebensweise über das ewige Heil, sondern Lieblosigkeit, Heuchelei oder die Beschimpfung anderer. Niemand sollte sich also auf der sicheren Seite wähnen. So will ich tatsächlich mein Katholischsein nicht verstehen.
Heute gehen wir einen wichtigen Schritt, im Gespräch zu sein. Wir wollen uns nicht nur akademisch über das Thema queeren Lebens austauschen, auch wenn dies wichtig ist, weil es den Blick schärft für die Realität und Grundlage tieferen Verstehens ist. Wir wollen die Geschichten von Menschen hören, sie ernst nehmen, und sie begleiten, für uns lernen, aber auch ihnen etwas von unserer Erfahrung eines liebenden Gottes erzählen. Und eigentlich ist diese Formulierung bereits wieder falsch: Es gibt hoffentlich kein „sie“ und „wir“. Alle sind uns willkommen, und wir lernen alle voneinander, was es heißt, gemeinsam zu glauben und weiter zu suchen nach dem Gott, der seinen Sohn gesandt hat, die Welt zu retten, nicht zu richten. Vielleicht werden wir als Bistum Mainz auch hören, dass es Aufarbeitung von Verletzung und folgenschwerer Verkündigung braucht. In Münster wird eine queere Person totgeschlagen, die sich bei einer Veranstaltung schützend vor andere gestellt hat. Dies ist mittlerweile kein Einzelfall mehr. Verkündigung muss auch innerkirchlich mühsam daran arbeiten, dass Hassparolen, verbale und körperliche Gewalt nicht mehr akzeptiert werden.
Ein Thema kann ich nicht aussparen. Bei der letzten Vollversammlung des Synodalen Weges ist der Text über eine Neubewertung der Sexualität in gelingenden Beziehungen an der Mehrheit der Bischöfe gescheitert. Manchen hat wohl gestört, dass er die in der Bibel verankerte Zweipoligkeit der Geschlechter „Mann und Frau“ vermisst oder in Frage gestellt gesehen hat. Jeder Text hat Schwächen. Ich meine, dass es die biblische Lehre vom Menschen nicht infrage stellt, wenn man akzeptiert, dass es Menschen gibt, die sich in unterschiedlicher Weise zu diesen Geschlechtern und ihrer Identität verhalten. „Wer bin ich, diesen Menschen zu verurteilen?“ – will ich Papst Franziskus zitierend aufgreifen. Professor Stephan Goertz hat dazu jüngst einen hilfreichen Beitrag im Netz veröffentlicht.
Für die beiden Beauftragten stehen viele Aufgaben an: Seelsorge, Aus- und Fortbildung, Anwaltschaft, Öffentlichkeitsarbeit, Vernetzung und nicht zuletzt das Fruchtbarmachen von Lebensgeschichten. Frau Schardt und Pfarrer Berger danke ich für ihre Bereitschaft und Gottes Segen. Allen Menschen unterschiedlichster Prägung danke ich, wenn sie uns als Kirche ihr Vertrauen schenken, wenn wir gemeinsam auf Wege des Glaubens gehen, wenn wir in allen Gottes Ebenbilder erkennen dürfen. Ich bin dankbar, wenn wir weitergehen, fragend, lernend und gesprächsbereit.