Wer war Abraham? Er wird von drei großen Weltreligionen als Stammvater des Glaubens an einen einzigen Gott verehrt. Er gehört wohl zu einer Gruppe Halbnomaden am Rand des palästinischen Kulturlandes. Er macht Erfahrungen mit diesem einen Gott, der ganz anders ist als alle Götter vorher. Dieser Gott ruft. Gott spricht zu Abram, wie er zunächst heißt, bevor er zu „Abraham“ wird, zum Vater der Menge, zum Vater vieler Völker wird. Der unendlich große Gott tritt ins Gespräch mit dem Menschen. Er ergreift selbst die Initiative. Bevor der Mensch Gott sucht, tritt Gott dem Menschen entgegen.
Zu Gen 15,5-12.17-18
Die Heilige Schrift nennt im Buch Genesis keinen konkreten Grund dafür. Aber das Sprechen Gottes hat einen Inhalt. Es ist eine Verheißung, ein Versprechen. Gott will, dass die Nachkommen Abrahams die Erde bevölkern, dass sie ein Segen werden für die anderen Menschen, für die Schöpfung, für die Welt, in der sie leben. Gott ruft, er spricht, er tritt aus seiner Verborgenheit in die Beziehung zum Menschen, ohne dessen Leistung, ohne dessen Opfer, sondern weil er den Segen, das Heil für andere will, und dazu Menschen in den Dienst nimmt. Das ist der Kern auch unseres Glaubens – bis heute. Wir können es Liebe nennen, was Gott bewegt, sich dem Menschen zuzuwenden. Gott kommt auf uns zu, er hat Interesse an unserem Heil, er will den Segen für uns, dass wir das Heil finden. Wir sollen Gott kennenlernen; wenn Gott einen Menschen ruft, dann nicht zum Selbstzweck, sondern dass er zum Segen für andere wird, dass er andere mitnimmt, und die Erfahrung dieses Gottes weitergibt. Der Glaube des Abraham ist die Antwort auf die Initiative Gottes. Gott ruft – der Mensch antwortet: Das ist das Grundmuster des Glaubens. Jesus selbst wird sich auf Abraham beziehen und seinen Zuhörern deutlich machen, dass in seinem Kommen genau das und noch mehr geschieht. Gott kommt auf den Menschen zu, er spricht, und er wartet auf Antwort (vgl. Joh 8,31-59). Die leibliche Abstammung von Abraham garantiert kein Heil, sondern erst die Glaubensantwort auf das Sprechen Gottes.
„State in Fide“: wir erinnern uns heute an Kardinal Lehmann, der vor einem Jahr verstorben ist. „Steht fest im Glauben“ war sein Wappenspruch. Vor einem Jahr haben wir ihn als großen Brückenbauer gewürdigt. Er war ein Mann des Wissens und der Wissenschaft. Aber in seinem Lebenszeugnis, dessen wir uns heute erinnern, macht er deutlich, dass es im Glauben nicht um ein Anhäufen von Wissen und toten Buchstaben geht, sondern um ein Ergriffensein, ein Hören, ein Sich-Aneignen, ein Berührtsein von Gott, der spricht. Theologie ist das Nachdenken über sein Sprechen, das Aneignen, das Weiterdenken, die Aktualisierung. Daher ist eine Theologie ohne Gebet, ohne die persönliche Gottesbeziehung wenig weiterführend. Im Glauben feststehen bedeutet daher immer auch, in eine Beziehung, ein Gespräch mit Gott einzutauchen. Theologie darf nie das Staunen über Gottes Zuwendung zu uns verlieren.
Abraham muss mit der Verheißung aufbrechen. „Feststehen im Glauben“ im Sinne Karl Lehmanns kann nicht das Denken sein, man hätte nun alles verstanden, man habe den Glauben in festen Sätzen als Besitz, ja, man besitze nun Gott selbst. Feststehen im Glauben bringt auf den Weg. Ein Glaube ohne Bewegung ist Ideologie. Christlicher Glaube im Sinne des wandernden Abraham hat sich immer auf das neugierige Gespräch mit den Themen und der Erkenntnissen der jeweiligen Zeit eingelassen. Anders als alle Götter zur Zeit des Abraham ist Gott ein Wege-Gott, der mitgeht, der auf dem Weg neue Erkenntnisse zulässt, der immer wieder zum Aufbruch mahnt. Kardinal Karl Lehmann steht für eine weltoffene und menschenfreundliche Theologie, die sich neuen Einsichten nicht verschließt. Das war die Versuchung damals zur Zeit Abrahams, zur Zeit Jesu und mag die Versuchung bis heute sein: Gott in Tempeln, in Formeln einzuschließen, ihn durch Opfer und Gebet, auch durch Theologie und Bekenntnisse in den Griff bekommen zu wollen. So aber wird er zum Götzen. Er bleibt der immer Größere, der auf so viele Weise sprechen kann, der in den Menschen, in ihren Denkweisen, in ihren Werten und auf ihren Wegen mitgeht und entdeckt werden will. „Steht fest im Glauben“ – das kann nach Karl Lehmann nicht bedeuten, Gott zu besitzen und stehen zu bleiben. Wenn wir in den vergangenen Monaten, Wochen und Tagen in der Bischofskonferenz über Themen wie „Priesterliche Lebensform“, „Macht und Machtbeschränkung“ sowie „Sexualmoral“ nachgedacht haben, haben manche auch gespürt, dass wir an den Ergebnissen moderner Wissenschaften nicht vorbeikommen, wenn wir nach Antworten suchen. Wenn Glaube vernünftig sein will, darf er sich dem Gespräch mit den Wissenschaften heute nicht entziehen. Glaube auf dem Weg mit Abraham meint eben nicht, ein totes Glaubensgut zu besitzen, das in einem Tresor von neuen Erkenntnissen unberührt lagert und von Generation zu Generation weitergereicht wird. Dann gehörte Glauben ins Museum, aber nicht auf die Straßen dieser Welt, mitten unter die Menschen mit ihren Themen, mit ihren Erkenntnissen und ihrem Wissen und ihren Fragen. Wie oft sind wir noch unterwegs mit der Einstellung, wir besäßen Gott – nicht er uns. Wie klein machen wir ihn oft, wenn wir ihn für unsere Zwecke nutzen. Wie klein wird er, wenn wir immer wieder auftreten und genau zu wissen vorgeben, was er von anderen will. Auf den Wegen, die Gott uns führt, ist die Demut die rechte Haltung. Er ist nicht der Gott Abrahams, wenn es nicht immer neues zu entdecken gibt, er ist nicht der große, unbeschreibliche Gott, wenn wir ihn mit wenigen Texten oder Büchern in den Griff bekommen haben. „Fest stehen im Glauben“ – das meint Bewegung, Fortschritt, Weg, Liebe zum Menschen und zur Welt, Interesse und Offenheit.
„Bei Sonnenuntergang fiel auf Abram ein tiefer Schlaf, große unheimliche Angst überfiel ihn“ (Gen 15,12). Wir haben diesen Satz in der Lesung gehört. Von Gott gerufen zu sein und mit ihm zu gehen beinhaltet auch Strecken der Angst und des Dunkels, Erfahrungen der tiefen Nacht. Abram hat die Verheißung, aber es gibt das Dunkel, den Zweifel, die Gottferne und das Gefühl, von Gott erdrückt zu werden. Gott ist nicht harmlos. Er ist die Liebe, aber nicht „lieb“ in unserem umgangssprachlichen Sinne. Deswegen ist es nicht harmlos, von Gott zu sprechen. Im Moment erleben wir eine Phase in der Kirche, in der mir die Erfahrung Abrams sehr nahe kommt: eine große unheimliche Angst, eine tiefe Nacht. Wir haben in der Kirche durch unser Verhalten ein Reden über einen liebenden Gott so unglaubwürdig gemacht. Vielleicht müssen wir derzeit eine Zeit der scheinbaren Gottferne aushalten, um neu von ihm zu reden, nachdem wir gelernt haben, dass er nicht dafür da ist, unsere Ziele zu bestätigen, unsere Macht zu sichern, dass wir unangreifbar werden in seiner Nähe. Wie prophetisch der Satz im Geistlichen Testament von Kardinal Lehmann war, hat sich mir besonders in den vergangenen Monaten erschlossen: „Schließlich ist mir die Unheimlichkeit der Macht und wie der Mensch mit ihr umgeht, immer mehr aufgegangen. Das brutale Denken und rücksichtsloses Machtstreben gehören für mich zu den schärfsten Ausdrucksformen des Unglaubens und der Sünde.“ Wenn Gott und die Rede über ihn dazu dient, meine persönliche Macht zu sichern, ist dies eine der schlimmsten und gefährlichsten Formen des Atheismus. Gott wird zum Instrument. Im Moment sollten wir einen Weg gehen, vor Gott neu zu erzittern, seinem Anspruch, seiner Gegenwart im Dunkel.
Der Gott Abrahams ist groß, er ist ein „Du“, er redet, er ruft. Er geht mit, er lässt sich nicht besitzen, er öffnet Neues, er erschreckt in seiner Größe, er erschüttert durch seine Liebe. Er ist alles, nur nicht lieb – er ist die Liebe, und damit alles andere als harmlos. „Steht fest im Glauben“: wir erinnern uns an Kardinal Karl Lehmann, und danken in seinem Sinne für das Geschenk des Glaubens. Nie aufhören zu fragen, zu beten, zu suchen und zu lieben: das mag unsere Antwort sein auf Gottes Ruf.