„Freut euch und trinkt euch satt an der Quelle göttlicher Hoffnung“ (Jes 66,11)

Fastenpredigt von Bischof Peter Kohlgraf zum 4. Fastensonntag im Mainzer Dom, am 11.03.2018, 18.00 Uhr

Datum:
So. 11. März 2018
Von:
Bischof Kohlgraf
Gott ist die Liebe, Gott ernährt uns, Gott ist voll Erbarmen und Trost. Ich halte diese Gedanken und Glaubenserfahrungen für eine starke Motivation für mein Leben und das Leben der Kirche heute. Gott ist derselbe, gestern, heute, und er wird es in Zukunft sein.

 „Freut euch und trinkt euch satt an der Quelle göttlicher Hoffnung“ (Jes 66,11)

Wie so oft beim Lesen der Heiligen Schrift lohnt es, sich den Zusammenhang eines Satzes anzuschauen. Beim ersten Überlegen zu dieser Predigt hätte ich mich an dem Begriff der „Quelle“ aufgehalten, und selbstverständlich wäre dies ein reizvolles Predigtthema gewesen. Gott als Quelle von Freude, Hoffnung und Zukunft!

Lesen wir jedoch den Satz im Zusammenhang:

„Sollte ich den Schoß öffnen, und nicht gebären lassen?, spricht der Herr. Sollte ich, der gebären lässt, den Schoß verschließen?, spricht dein Gott. Freut euch mit Jerusalem, und jauchzt in ihr alle, die ihr sie liebt! Jubelt mit ihr, alle, die ihr um sie trauert, auf dass ihr trinkt und satt werdet an der Brust ihrer Tröstungen, auf dass ihr schlürft und euch labt an der Brust ihrer Herrlichkeit. (…) Wie einen Mann, den seine Mutter tröstet, so tröste ich euch; in Jerusalem findet ihr Trost.“ (Jes 66,9-11,13; Einheitsübersetzung 2017).

Gott nimmt gegenüber seinem geschundenen Volk mütterliche Züge an. Er tröstet sein Volk, wie eine Mutter ihren weinenden Sohn in den Arm nimmt. Im neuen Jerusalem finden die Menschen die lebensspendende und nährende Brust, so dass sie neue Hoffnung und neues Leben finden. Diese mütterlichen Züge des Gottes Israels werden an einzelnen Stellen in den Propheten und den Psalmen herausgestellt: „Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, ohne Erbarmen sein gegenüber ihrem leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergisst: Ich vergesse dich nicht.“ (Jes 49,15). Oder im 11. Kapitel des Buches Hosea: „Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten. (…) Mit menschlichen Fesseln zog ich sie, mit Banden der Liebe. Ich war da für sie wie die, die den Säugling an ihre Wangen heben. Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen.“ (Hos 11,1,4). Im Psalm 131 bekennt der Beter: Vor Gott „habe ich zur Ruhe gebracht meine Seele. Wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter, wie das gestillte Kind, so ist meine Seele in mir.“ (Ps 131, 2)

Es ist gut, dass neben den vielen Bildern von Gott auch diese mütterlichen Vorstellungen zu sprechen beginnen. Der Katechismus der Katholischen Kirche formuliert so: „Gott ist keineswegs nach dem Bild des Menschen. Er ist weder Mann noch Frau. Gott ist reiner Geist, in dem es keinen Geschlechtsunterschied geben kann. In den „Vollkommenheiten“ des Mannes und der Frau spiegelt sich jedoch etwas von den unendlichen Vollkommenheiten Gottes wider: die Züge einer Mutter und diejenigen eines Vaters und Gatten.“ (KKK 370)

Diese mütterlichen Vollkommenheiten Gottes lohnen sich genauer in den Blick genommen zu werden. Schaut man sich die oben angeführten Stellen näher an, fällt auf, dass sie in sehr  schwierige Situationen hineingesprochen sind. Bei Jesaja ist es die Situation nach dem Babylonischen Exil, als es um den Aufbau eines neuen Jerusalem geht. Das Gottesvolk steht also in einer Situation, die gezeichnet ist von den schlimmen Erfahrungen des Krieges und der Verschleppung, der Unterdrückung und der Zukunftsängste. Nun aber keimt neue Hoffnung auf, auch wenn noch nicht klar erkennbar ist, wie die Zukunft aussehen wird. Eine Situation des Übergangs, in der man sich entscheiden muss: glauben und vertrauen wir dem Wort Gottes, oder ist die Erfahrung der scheinbaren Machtlosigkeit und Abwesenheit Gottes so groß, dass wir es dabei belassen und im Letzten nur noch auf uns selbst bauen? Der Prophet lädt zum Weg des Vertrauens ein.

Dabei hilft ihm der Blick auf den Gott, der sein kann wie eine Mutter. Die wichtigste Eigenschaft einer Mutter ist wohl die Liebe zum Kind.

- Gott ist die Liebe

Dass Gott ein liebender Gott ist, zieht sich wie ein roter Faden durch zahlreiche biblische Texte. Liebe hat dabei viele Facetten. Manchmal wird diese Liebe verglichen mit der Zuneigung zwischen Mann und Frau. Gott liebt sein Volk, wie sich ein Paar liebt, das sich gefunden hat, und nun einen gemeinsamen Lebensweg miteinander beginnt. Dabei steht nicht nur ein anfängliches Verliebtsein im Blick. Die Beziehung Gott/Mensch beinhaltet Untreue der Menschen und Neuanfang, Zeiten göttlichen Schweigens, Erinnerung an frühere bessere Zeiten, Hoffnung auf bessere Tage; sie beinhaltet bewusstes neues Entscheiden für die Fortsetzung der Partnerschaft von beiden Seiten, Eifersucht, das Setzen klarer Grenzen und die Forderung nach Änderung des Verhaltens, schließlich gegenseitiges Unverständnis wie auch unübertroffene Empathie; kurzum: sie beinhaltet den ganz normalen Alltag einer tiefen Beziehung, wie sie auch zwischen Menschen sein kann.

Die Liebe zwischen einer Mutter und ihrem Kind trägt andere Züge. Wir erfahren heute, dass die Mutterliebe nicht so selbstverständlich ist, wie die biblischen Autoren wohl voraussetzen. Berichte von Müttern, die ihren Kindern wehtun und ihnen schaden, begegnen uns heute. Die Bibel geht von einer natürlichen Liebe der Mutter zu ihrem Kind aus. Diese Hingabe der Mutter geht bis zur Selbstaufgabe. Heinrich von Kleist beschreibt in einer Anekdote unter dem Titel „Mutterliebe“, wie eine Mutter sich einem gefährlichen Hund entgegenstellt, der ihre Kinder angegriffen hat und dabei selbst das Leben verliert. „Mütter tun Dinge, die kein normaler Mensch machen würde“, definiert eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern ihre Rolle. Was alles dazu gehört, wissen Mütter besser als ein predigender Bischof. In einem Artikel heißt es dazu:

„Mutterliebe ist eine weise Art von Liebe und mehr als bloßes Verliebtsein. Liebe ist eine Konsequenz unserer sozialen Natur. Mutterliebe muss so stark sein, um das Kind am Leben zu halten. Kleine Kinder brauchen nicht nur komplexe Pflege, um zu überleben, sondern auch viel Zuwendung, damit ihr Gehirn sich korrekt entwickelt. Dazu gehören Berührungen, Nähe und angemessene emotionale und intellektuelle Reaktionen und Anregungen von ihren Bezugspersonen.

Um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, ist emotionale und soziale Intelligenz gefragt. Mütter müssen Gefühle erkennen und gut auf sie reagieren können, immer im Blick haben, was gerade um sie und das Kind herum passiert, vorhersehen, was das Kind als nächstes braucht und sorgfältig vorausplanen.“[1]

Das sind Vergleichspunkte zur mütterlichen Liebe des Gottes Israels. Gottes Liebe übersteigt jedes rationale Maß. Er würde alles tun, um seinem Kind zum Leben zu verhelfen, es zu beschützen, zu pflegen und zu hüten. Die Liebe bleibt nicht fern. Er berührt seine Menschen, er ist ihnen mit seinem ganzen Herzen nahe. Zudem schaut er stolz zu, wie die Menschen groß, erwachsen und frei werden, er freut sich über ihre Erfolge, er leidet mit, wo es ihnen schwer ist. Er fühlt sich in unsere Freuden und Sorgen ein. Er heilt uns, wenn wir verletzt sind, er ermutigt uns, wenn wir mutlos werden. Solche Bilder von Gott entstehen ja nicht am Schreibtisch, sie sind Ergebnis einer tiefen Erfahrung glaubender Menschen. In einer Krisensituation leben glaubende Menschen ihre Überzeugung, dass Gott so für sie da ist wie eine Mutter für ihr Kind. Bei allen Fragen, wie es denn in ihrem Leben weitergehen wird, steht die Überzeugung im Vordergrund, dass es mit diesem Gott eine Zukunft geben wird. Diese Überzeugung geben uns die Menschen aus der Zeit des Propheten mit in unsere Welt, in unseren Themen in Kirche und Gesellschaft. Aber auch in unsere persönlichen Veränderungen und Sorgen: mit der mütterlichen Liebe Gottes geht es weiter!

- Gott ernährt uns

Das Bild von der nährenden Brust führt das Bild der mütterlichen Liebe Gottes weiter. In der Muttermilch erhält der Säugling alle Nährstoffe, die er braucht und die ihm helfen, Widerstandskräfte auszubilden. Die göttliche Nahrung für den Menschen ist sehr vielfältig. Der Mensch, der sich als Kind Gottes erfährt, nimmt die irdische Nahrung als Geschenk Gottes an: „Du tränkst die Berge aus deinen Kammern, aus deinen Wolken wird die Erde satt. Du lässt Gras wachsen für das Vieh, auch Pflanzen für den Menschen, die er anbaut, damit er Brot gewinnt von der Erde und Wein, der das Herz des Menschen erfreut, damit sein Gesicht von Öl erglänzt und Brot das Menschenherz stärkt.“(Ps 104, 13-15). Gott schenkt die Nahrung als Zeichen seiner Liebe und Sorge. Selbst wenn uns die Vorstellung eines Regen spendenden Gottes archaisch erscheint, ist der Gedanke, dass Nahrung Geschenk ist, das wir nicht nur machen, wieder sehr modern. Der Mensch ist Teil einer Schöpfung, die aus Liebe geschaffen ist. Aus diesem Bewusstsein ergibt sich eine Liebe zur ganzen Schöpfung und eine Verantwortung des Menschen für den Erhalt der Geschenke Gottes für alle. Papst Franziskus formuliert es in seiner Umweltenzyklika Laudato si so:

„Heute sind wir uns unter Gläubigen und Nichtgläubigen darüber einig, dass die Erde im Wesentlichen ein gemeinsames Erbe ist, dessen Früchte allen zugutekommen müssen. Für die Gläubigen verwandelt sich das in eine Frage der Treue gegenüber dem Schöpfer, denn Gott hat die Welt für alle erschaffen. Folglich muss der gesamte ökologische Ansatz eine soziale Perspektive einbeziehen, welche die Grundrechte derer berücksichtigt, die am meisten übergangen werden. (…) Gott hat die Erde dem ganzen Menschengeschlecht geschenkt, ohne jemanden auszuschließen oder zu bevorzugen, auf dass sie alle seine Mitglieder ernähre. (…) Der Reiche und der Arme besitzen die gleiche Würde, denn „der Herr hat sie alle erschaffen“ (Spr 22,2), „er hat Klein und Groß erschaffen“ (Weish 6,7) und „lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten“ (Mt 5,45).“ (LS 93f.)

Die Sorge Gottes zeigt sich in der Zuteilung der leiblichen Nahrung, die Haltung des Menschen ist Dankbarkeit und Verantwortung für den Bruder und die Schwester. Neben der leiblichen Nahrung schenkt Gott aber alles, was der Mensch für ein Leben mit Sinn und Orientierung braucht. In der Berufungsvision des Propheten Ezechiel muss er die Buchrolle mit Gottes Wort essen: Fülle dein Inneres mit dieser Rolle (Ez 3,3). Der Prophet Jeremia spricht in einem Gebet: „Fand ich Worte von dir, so verschlang ich sie. Dein Wort wurde mir zum Glück.“ (Jer 15,16) Auch die Psalmen sprechen vom Wort Gottes als Nahrung für das Leben. Im Christlichen, besonders im Katholischen, wird der Gedanke der Nahrung im Sakrament noch konkreter. Im Zeichen des Brotes und des Weines gibt sich Gottes Sohn zur Speise, die den Menschen durch das irdische ins ewige Leben begleitet.

Die mütterliche Sorge Gottes reicht weit im Leben der Menschen. Der Mensch kommt aus dem Schöpferwillen Gottes, aus seinem Mutterschoß. Er wird genährt, materiell und geistlich. Das Leben hängt an der Fürsorge Gottes. Schließlich erstreckt sich die Liebe Gottes über den leiblichen Tod hinaus. Gott selbst wird zur lebensspendenden Nahrung für den Menschen.

In der damaligen Situation des Propheten und seines Volkes braucht es Orientierung, die nicht von außen kommt, sondern die dem Menschen in Fleisch und Blut übergeht. Wenn wir heute nach Wegen in die Zukunft suchen, dann führt uns der Gedanke weiter, Gottes Gegenwart ganz in uns aufzunehmen, sein Wort wirklich zu verdauen, dass es uns ganz ergreifen und verwandeln kann. In einer Welt, die Freiheit zu Recht hoch schätzt, braucht es Orientierung, damit Freiheit nicht zu Willkür führt.

- Der Mensch lebt vom Mitgefühl Gottes

Gott wird immer wieder von heftigen Gefühlswallungen heimgesucht[2]. Einige dieser Gefühle werden mit mütterlichen Eigenschaften verbunden. Angesichts des Verhaltens und der Situation des Gottesvolkes ringen unterschiedliche Emotionen in Gott. Zorn, Gerechtigkeit stehen gegen Barmherzigkeit, Verständnis und Mitleid. Während die für die Bibel eher männlichen Eigenschaften wie Gerechtigkeit für den Abbruch der Beziehungen zum Menschen sprechen, sprechen die mütterlichen Eigenschaften für den Erhalt der Beziehung. Das Mitleid und Erbarmen ist am Ende stärker als die Vergeltung. Tatsächlich hat das Erbarmen in der hebräischen Sprache einen mütterlichen Bezug. Erbarmen, sich erbarmen, Mitgefühl und Mitleid gehen auf die gleiche Sprachwurzel zurück. In den hebräischen Wörtern steckt die Wurzel „Mutterschoß“. Im Mitleid regt sich sozusagen Gottes mütterliche Beziehung zum Menschen, der aus ihm gekommen ist. Im Mitleid steckt das Wort Mutterliebe, zu deren Gunsten Gott bereit ist, auf Gerechtigkeit zu verzichten. Der Papst sagte 2016 in einer Generalaudienz: „Der Herr ist barmherzig: dieses Wort weckt eine Haltung der Zärtlichkeit wie jene einer Mutter im Umgang mit ihren Kindern. Tatsächlich lässt das in der Bibel benutzte hebräische Wort an die Eingeweide oder an den mütterlichen Schoß denken. Deshalb ist das Bild, das die Bibel nahelegt, jenes eines Gottes, der sich anrühren lässt und mit uns Mitleid bekommt wie eine Mutter, wenn sie ihr Kind in den Arm nimmt und es einfach nur lieben, schützen und ihm helfen will; sie ist bereit, alles zu geben, auch sich selbst. Eine Liebe also, die man als im guten Sinn bis in die Eingeweide gehend nennen kann.“[3]

Weil Gott so ist, kann er mit den Menschen mitempfinden, mitfühlen. Er versteht den Menschen bis in den tiefsten Winkel seines Herzens. Von einem solchen Gott erwartet und erhofft sich der Mensch Trost, Heilung, Zuwendung und Verständnis. Ich stelle mir die Situation des Propheten vor. In einem Übergang, wo alles Tragende zerstört ist und Neues noch im Werden, vertraut er sich und sein Volk einem Gott an, der nicht mehr zuschlägt und straft, sondern versteht, heilt und tröstet. Mancher mag das Bild meditiert haben, wie er auf dem Schoß der Mutter sitzt und dort lachen, weinen, klagen und sich freuen kann. Wer so glaubt und betet, wird verändert. Von einer solchen Erfahrung spricht der Prophet.

- Gott ist die Liebe, Gott ernährt uns, Gott ist voll Erbarmen und Trost. Ich halte diese Gedanken und Glaubenserfahrungen für eine starke Motivation für mein Leben und das Leben der Kirche heute. Gott ist derselbe, gestern, heute, und er wird es in Zukunft sein. Auch wir stehen heute in einer Schwellensituation: Altes zerbricht, Neues wird, aber wo geht es hin? Einfache Antworten gibt es nicht. Aber ohne einen Gott, der liebt, der Nahrung gibt, der tröstet und ermutigt, der vergibt und mitgeht, sollten wir es gar nicht erst versuchen. Wenn es ihn aber gibt, diesen Gott, dann gibt es Zukunft. „Freut euch und trinkt euch satt an der Quelle göttlicher Hoffnung“: das wünsche ich unserer Kirche, unserer Zeit, aber auch jedem einzelnen Menschen, der nach Leben in Fülle sucht.


[1] www.dasgehirn.info (Abruf 4.3.2018)

[2] Vgl. Silvia Schroer, Thomas Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 1998, 86-89.

[3] https://www.erzdioezese-wien.at/site/nachrichtenmagazin/schwerpunkt/papstfranziskus/article/47986.html (Abruf 4.3.2018)