„Geht hin und seht nach“

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Ökumenischen Morgengebet zum Kirchentagssonntag am 7. Februar 2021 im Ökumenischen Gemeindezentrum Darmstadt Kranichstein

Datum:
So. 7. Feb. 2021
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Zu Mk 6,35-44

„Schaut hin“ – das Motto des Ökumenischen Kirchentags 2021 findet sich in der Erzählung von der „wunderbaren Brotvermehrung“ im Markusevangelium (Mk 6,35-44). Leicht kann man es in dieser Geschichte überlesen. Das Motiv des Hinschauens spielt im Markusevangelium auch schon vor dieser Szene eine wichtige Rolle: Jesus sieht die vielen Menschen, die ihm nachgehen und „er hatte Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ (Mk 6, 34) 

Tatsächlich ist eine Schafherde ohne den Hirten kaum lebensfähig. Schafe gehören zu den Tiergattungen, die sich an Menschen gewöhnt haben und von ihnen abhängig geworden sind. Schafe sind sanfte Tiere, sie sind sozial und kennen Gefühle wie Angst, Wut, Verzweiflung, Langeweile, Ekel und Glück. Bei ihnen herrscht eine klare Rangordnung, die von den Stärkeren dominiert wird. Bei Gefahr suchen sie die Mitte der Herde, sie bringen sich in Sicherheit. Sie sind von menschlicher Pflege abhängig, und man muss ihre „Sprache“ lernen, um ein guter Hirte sein zu können. Es braucht Geduld, Ruhe und Übung im Umgang mit den Tieren. Die Herde braucht unbedingt Schutz vor den Angriffen wilder Tiere. Allein kann ein Schaf nicht leben, es ist ein ausgesprochenes Herdentier. 

Dieser kleine Ausblick in die Tierwelt lässt ahnen, wie Jesus „seine“ Menschen sieht und erlebt. Es ist ein liebender Blick auf die Menschen. Er spricht ihre Sprache und versteht sie, soviel wird in den Evangelien deutlich, und die Menschen spüren das wohl. Sie wollen ihn hören, ihn sehen und berühren. Die Jünger und Jüngerinnen Jesu sind im Übrigen zunächst Teil dieser Herde. Sie sind nicht die besseren Schafe. Sie brauchen genauso den Schutz, die Orientierung, die Nahrung, die Jesus ihnen vermittelt. Bevor sie selbst zu einer Hirtenaufgabe gesandt sind, müssen sie selbst die Sprache der Schafe, sprich: die Sprache der Menschen verstehen lernen, zu denen sie gesandt sind und mit denen sie unterwegs sind. Daher: „Schaut hin“. Die Jüngerinnen und Jünger sollen nicht zuerst reden und belehren, sondern sie sollen erst einmal die Menschen verstehen lernen. Sie sollen Kenner der Welt der Menschen werden; sie sollen die Freuden und Hoffnungen, die Trauer und Ängste der Menschen verstehen lernen, die ja auch ihre eigenen Freuden, Hoffnungen, Trauer und Ängste sind oder werden sollen (Gaudium et Spes 1). Sie sollen die Menschen so zu sehen lernen, wie Jesus sie sieht. Man kann den Auftrag Jesu so zusammenfassen: Nehmt meinen Blick ein, schaut mit meinem Blick auf die Menschen. Und das ist nicht der geringschätzende Blick des Besserwissers, des Moralisten, des Mächtigen, sondern der Blick der Sympathie, ja der Blick der Liebe zum Menschen. 

„Schaut hin“ – natürlich müssen die Jüngerinnen und Jünger deshalb auch in die Schule Jesu gehen, auf ihn schauen, ihm auf den Mund und auf die Hände schauen, damit sie gut mit den Menschen umgehen können. Im Evangelium werden die Jünger nicht als gute Schüler hingestellt. Sie wollen die Menschen wegschicken, anstatt Verantwortung zu übernehmen. Eine Episode später werden sie als Menschen ohne Einsicht beschrieben, die auch durch die Brotvermehrung nicht verstehen, was ihr Auftrag und wer Jesus ist; verstockt sind sie (Mk 6,52). 

„Schaut hin“: Der verstockte Schüler Jesu, der nicht zur Einsicht kommt, der nicht den Blick Jesu einnimmt, hat einen Blick, der nur die eigenen Grenzen wahrnehmen kann. Das können verschiedene Grenzen sein, über die man nicht hinausschauen kann. Es gibt die Grenzen der Tradition: Das hat es noch nie gegeben, das brauchen wir nicht, sagen viele auch im Hinblick auf die Möglichkeiten der Kirche oder gar die Möglichkeiten Gottes. Nicht selten sperrt man Gott in die Grenzen der eigenen Vorstellungswelt ein. Es gibt die Grenzen der eigenen Mutlosigkeit, wenn man vorher schon zu wissen meint, dass etwas Gutes und Neues ohnehin nicht funktionieren kann. Es gibt die Begrenzung, die Wirklichkeit auch der Kirche und des Glaubens auf das Planbare und Machbare zu reduzieren. Dann wird die Kirche zu unserem Werk und hört schnell auf, Gottes Kirche und die Gemeinde Jesu Christi zu sein. 

„Schaut hin“ – heißt zunächst diese Selbstbegrenzungen wahrzunehmen, die Gottes Handeln unmöglich machen können. Es gibt ebenfalls im Markusevangelium eine Stelle, an der es heißt, dass Jesus aufgrund der Vorurteile seiner Zuhörer keine Machttat tun konnte (Mk 6,5). Unsere eigenen Vorurteile und die eigene Konzentration auf das, was alles nicht geht, kann Gottes Machttaten unmöglich machen. 

So verstehe ich das „Schaut hin“: Werdet zunächst einmal offen für das, was Gott wirken kann. Öffnet das verstockte Herz für die Wunder Gottes, seine Möglichkeiten, seine Fülle, die er schenken kann. Wer offen wird für die Lebensmöglichkeiten, die Gott eröffnen kann, für seine neuen Welten, für seine Grenzen sprengende Liebe und Macht, der ermöglicht das Wirken Gottes in dieser Welt. Dazu muss ich aufhören, meinen eigenen begrenzten Horizont mit dem Horizont Gottes zu verwechseln. Er hat so viele Möglichkeiten, zu handeln und seine Liebe zu zeigen, an die ich noch nicht einmal im Traum denken kann. In der Erzählung von der Brotvermehrung wird klar: Wir sollen selbst zu Werkzeugen dieser Liebe Gottes werden: „Gebt ihr ihnen zu essen“ (Mk 6, 37). Die Jünger sollen auf die Ressourcen schauen, die Gott ihnen in die Hand gegeben hat. Diese Ressourcen sind nicht mit den materiellen Gütern zu verwechseln; in unseren Pastoralplanungen sind damit meist Geld und Gebäude identifiziert. Die eigentlichen Ressourcen, die es neu zu entdecken gilt, sind Gottes Zuwendung und Liebe, die wir – ohne zu zählen und zu messen – austeilen und weitergeben dürfen. Wir haben sein Wort der Treue in der Hand, wir haben seine Sakramente, die die Nähe Gottes vermitteln und seine Liebe erfahrbar und berührbar machen. Wir selbst sind Gottes Ressourcen in einer Welt, die er mit seinen Augen anschaut. 

„Schaut hin“: Wie für die Jünger im Evangelium gilt es heute, Verantwortung zu übernehmen. Noch einmal: Dazu dürfen wir grenzenloses Vertrauen in Gottes Macht und Güte haben – und gleichzeitig die Sprache der Menschen sprechen lernen. Sie sind nicht gott-los, im besten Fall sind sie mit uns auf der Suche nach Sinn und Orientierung. Vielleicht müssen wir erst einmal Fragen wecken und zulassen. Schwierig wird es mit den Menschen, die schon alles zu wissen meinen oder aufgehört haben zu fragen und zu suchen. Das gilt übrigens für Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche. Wir haben als Kirchen einen Auftrag in dieser Welt, die Nahrung Gottes weiterzugeben. 

Der Ökumenische Kirchentag bringt auch in der veränderten Form die Themen des Friedens, des demokratischen Miteinanders und der gemeinsamen Verantwortung für die Schöpfung zur Sprache. Es wäre jedoch eine Verkürzung, wenn man diese politische Agenda von den geistlichen Wurzeln trennen würde. Die Quelle, aus der wir schöpfen wollen, ist der Glaube an Gott, der uns in Jesus Christus begegnet. Wir werden auch in der jetzigen Form gemeinsam beten und das Wort Gottes hören und in uns aufzunehmen versuchen. Aber dieser Glaube will gelebt werden, die Nahrung weitergegeben und die Quelle muss zu einem Fluss werden, an dem Leben gedeihen kann. Wir wollen auch unsere Hoffnung auf einen Gott weitergeben, dessen Möglichkeiten jedes menschliche Maß und jede menschliche Grenze überschreiten. 

„Schaut hin“: Aus der Herde ohne Hirten wird mit der Macht Jesu und den Händen seiner Jüngerinnen und Jünger eine Gemeinschaft, die satt wird und noch weitergeben kann. Das ist eine hoffnungsvolle Vision für unsere Kirchen in dieser Zeit. Es ist ein Bild unserer Kirchen, die sich nicht als exklusiven Club verstehen, sondern in eine Gemeinschaft mit allen Menschen guten Willens eintreten, sich mit ihnen hinsetzen, teilen und gemeinsame Wege gehen. Das Bild der Kirche im Markusevangelium ist nicht das Bild einer kleinen, reinen und heilen Gemeinschaft, die für sich bleibt. Es ist auch ein Bild des Trostes, was eine kleine Bewegung erreichen kann, wenn sie auf Christus setzt, mit seinen Augen in die Welt und auf die Menschen schaut, und ihm die Hände leiht, um Nahrung weiterzugeben. Was ist das für so viele? Das Evangelium beantwortet diese Frage eindeutig. Was wir in seinem Namen weitergeben, kann zur Fülle werden – mit Gottes Hilfe. 

Informationen zum ÖKT-Gottesdienst am 7. Februar in Darmstadt

Bischof Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz, übernimmt die Predigt in der Philipuskirche des Ökumenischen Gemeindezentrums Kranichstein, online verfügbar ab 11.30 Uhr: https://bbb2.ccita.de/b/haw-zju-9kp mit der Raumnummer 807556.