Mit diesem Thema greifen wir auch nochmals die Spannungen und Fragen im Wort der Barmherzigkeit auf und bedenken besonders die Einwände gegen die Barmherzigkeit. In der Tat kann sie rasch verletzt werden, auch als Wort kann „Barmherzigkeit“ missbraucht werden und verkommen. Deswegen braucht es immer wieder einen gewissen Anlauf zu seinem ursprünglichen Sinn, damit dieses Wort nicht nur im Repertoire der Witzemacher und der Komödianten bleibt.
Wir machen uns mit vielen betroffenen Menschen und Verantwortlichen in Gesellschaft und Politik Gedanken über das, was Gerechtigkeit, besonders in sozialer Hinsicht, heißt. Wir wissen, warum schon die klassische Theologie und Philosophie bei der Aufzählung der Kardinaltugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Maß, Tapferkeit) die Klugheit als eine überall notwendige Verhaltensweise, die Gerechtigkeit jedoch als Fundament für alle anderen Formen menschlichen Zusammenlebens betrachtet. Ähnlich sagt es auch der Prophet Jesaja: „In der Wüste wohnt das Recht, die Gerechtigkeit weilt in den Gärten. Das Werk der Gerechtigkeit wird der Friede sein, der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer.“ (32,16f.) Dies steht zunächst in einer Spannung zu der Aussage des Evangeliums über die Barmherzigkeit und die Gerechtigkeit: „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.“ (Mt 5,6f.)
Oft hat man Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als äußerste Gegensätze gesehen. Gerecht erscheint alles das, worauf man einen Rechtsanspruch hat. Jeder soll das Geschuldete bekommen. In der Ethik spielt das Thema der Wiedergutmachung eine große Rolle. Wenn etwas versäumt, verletzt oder zerstört worden ist, dann soll der entstandene Schaden beseitigt, der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werden. Für viele ethische Anschauungen der Völker spielt dies eine große Rolle. Man findet darin die Gerechtigkeit wiederhergestellt. So kann es auch im Alten Bund um das berühmte Wort „Aug um Auge, Zahn um Zahn“ (dazu Ex 21,24; Lev 24,20; Dtn 19,21; vgl. Mt 5,38). Aber es ist ja rasch evident, dass dieses Prinzip in vielen Fällen versagt. Manche Verluste können nicht mehr ersetzt werden. Besonders deutlich ist dies beim Töten. Tote können nicht wieder in das Leben zurückgerufen werden. Hier versagt die Wiedergutmachung. Sie wird auch nicht dadurch eingelöst, dass man den Täter selbst um sein Leben bringt. Aber in unserem Alltagsleben spielt die Wiedergutmachung eine große Rolle, besser gesagt: Sie müsste eine große Rolle spielen. Oft entziehen sich auch die Täter ihrer Pflicht. Deswegen ist es verständlich, dass wir uns dieser Wiedergutmachung entziehen. Umso wichtiger ist sie in der Rechtsordnung.
Zugleich wissen wir aus der Heiligen Schrift und unserer Erfahrung, dass wir vor der absoluten Forderung nach Gerechtigkeit nicht bestehen können. Wir versagen immer wieder im Erfüllen dessen, was geboten und gerecht ist. In diesem Sinne führt die „Gerechtigkeit“ fast notwendig zur Verwerfung des Sünders. So müssen wir immer wieder auch Erbarmen vor Recht ergehen lassen, da jeder Schuldner des Anderen und auch Gottes ist und deshalb von der Barmherzigkeit lebt (vgl. Lk 6,36).
Nun hat es die Barmherzigkeit unter den Tugenden immer auch etwas schwer gehabt. In der alten Welt bedeutet es oft zunächst Rührung über die unverschuldete Not eines anderen Menschen. Manche versuchen damit Mitgefühl und Verständnis, ja auch Hilfsbereitschaft zu erzeugen. Aber die philosophischen Tugendlehren haben immer auch etwas scheel und geringschätzig auf die Barmherzigkeit heruntergeschaut. Sie wurde vor allem als bloß sinnliche Erregung verstanden und darum auch als sittlich minderwertig beurteilt. So empfand Kant die Barmherzigkeit als „eine beleidigende Art des Wohltuns“. Nietzsche sah in ihr einen weichlichen Egoismus, der das Leiden in der Welt nur noch vermehrt und den Leidenden auch entehrt. „Wahrlich, ich mag sie nicht, die Barmherzigen, die selig sind in ihrem Mitleiden: zu sehr gebricht es ihnen an Scham.“ (Also sprach Zarathustra II)
Es ist schon etwas dran. Zur Schau gestellte Barmherzigkeit kann den Bedürftigen und Armen, aber auch denjenigen, der Vergebung erfährt, noch mehr erniedrigen. Wir kennen neben Erbarmen das Wort erbärmlich: Not und Elend können erbärmlich sein, aber auch ein gnädiger, von oben herablassender Umgang mit Menschen in vielfältiger Not. Dennoch brauchen wir so etwas wie Barmherzigkeit. Schon die alte Welt wusste, dass man gerade dann, wenn man eine strenge Gerechtigkeit fordert, auch wieder den konkreten Situationen menschlich entsprechen und begegnen muss. So ist z.B. die „Billigkeit“ wichtig, die primär auf die Absicht eines Gesetzes schaut und um Lücken weiß. Es braucht aber auch die Freundschaft unter den Menschen. Wo Zuneigung herrscht, kann man einem Menschen besonders gerecht werden. Die Gerechtigkeit braucht wegen der Gleichheit für alle eine generelle Norm; aber auch der Einzelfall braucht in seiner unverwechselbaren Besonderheit Beachtung und Rücksicht. Man braucht auch viel Takt, um dabei nicht willkürlich und ungerecht zu werden.
Deshalb ist es verständlich, dass wir zuerst Gott selbst barmherzig nennen. Viele Worte in der Bibel sind uns dabei sehr geläufig: „Der Herr ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Gnade.“ (Ps 145,8, vgl. 111,4); „Der Herr ist gnädig und gerecht, unser Gott ist barmherzig.“ (Ps 116,5) Dies bezeugt sich auch im Neuen Testament, wenn Paulus den Zweiten Brief an die Korinther mit den Worten beginnt: „Gepriesen sei der Gott und Vater Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes.“ (2 Kor 1,3) Die Barmherzigkeit Gottes konkretisiert sich vor allem in der Vergebung der Schuld, sie gewährt Schutz und Leben. Der Mensch wird nicht in einer missglückten Vergangenheit eingesperrt. Gott befreit ihn vielmehr durch Vergebung zu einem neuen Leben in die Zukunft hinein.
So will Gott auch Barmherzigkeit, Recht und Güte für die Menschen (vgl. Hos 6,6; 12,7, Sach 7,9). Vor allem ist die von Gott geforderte helfende Tat gegenüber dem notleidenden Menschen gemeint. Der Barmherzige Samariter (vgl. Lk 10,37) ist zum unübertrefflichen Symbol geworden. In der Auseinandersetzung mit den Pharisäern fordert Jesus (im Anschluss an Hos 6,6) Barmherzigkeit, nicht Opfer. Gott schenkt Barmherzigkeit in souveräner Freiheit. Er ist durch nichts gezwungen. Ein Höhepunkt der biblischen Verkündigung vom barmherzigen Gott ist das Gleichnis vom Verlorenen Sohn (vgl. Lk 15,11-32). Zur Barmherzigkeit gehört das durch nichts geschuldete Entgegenkommen, so wie der Vater dem verlorenen Sohn, den er schon von ferne sieht, Mitleid zuwendet (vgl. 15,20). Diese beiden Perikopen vom barmherzigen Samariter und vom verlorenen Sohn sind die anschaulichen Exempel der Barmherzigkeit des Menschen nach Gottes Maßstab und spielen deshalb auch in der Tradition, nicht zuletzt auch in der Kunst, eine sehr große Rolle.
Wir haben über das Erbarmen Gottes vom heiligen Papst Johannes Paul II. ein hervorragendes Dokument, nämlich seine zweite Enzyklika vom 30. November 1980 „Dives in misericordia“ (vgl. die Ausgabe „Der bedrohte Mensch und die Kraft des Erbarmens“. Revidierte deutsche Übersetzung und Kommentar von K. Lehmann, Freiburg i. Br. 1981). Es wäre zu wünschen, dass die Kirche sich mit den wertvollen Äußerungen von Papst Franziskus auch dieses Weltrundschreiben noch viel mehr zu eigen macht, so wie dieser Papst ja auch am ersten Sonntag nach Ostern einen „Tag der göttlichen Barmherzigkeit“ in der Kirche eingeführt hat (nebenbei gesagt: in der Nacht zu gerade diesem Tag ist er gestorben). In seiner Enzyklika kommt Johannes Paul II. auch auf das Verhältnis von Gerechtigkeit und Erbarmen zurück. Liebe und Erbarmen gibt es nicht ohne den Willen zur Gerechtigkeit. Aber die Gerechtigkeit im Sinne einer bloßen Gleichmachung allein macht das menschliche Leben noch nicht menschlich. Programme der Gerechtigkeit haben nämlich auch zu viel Feindseligkeit, Hass und Grausamkeit geführt. Trotzdem besteht kein letzter Widerspruch zwischen der Gerechtigkeit und dem Erbarmen. „An keiner Stelle der Frohen Botschaft bedeutet das Verzeihen, noch seine Quelle, das Erbarmen, ein Kapitulieren vor dem Bösen, dem Ärgernis, vor der erlittenen Schädigung oder Beleidigung. In jedem Fall sind Wiedergutmachung des Bösen und des Ärgernisses, Behebung des Schadens, Genugtuung für die Beleidigung, Bedingungen der Vergebung.“ (Nr. 14, vgl. auch Nr. 4 der genannten Enzyklika) Die Gerechtigkeit braucht noch eine tiefere Kraft, um das menschliche Leben zu prägen. Die Gerechtigkeit verdankt sich in ihrem Wesen noch tieferen Quellen des Geistes. Dies zeigt sich vor allem in den zwischenmenschlichen Beziehungen. „Eine Welt ohne Verzeihen wäre eine Welt kalter und ehrfurchtsloser Gerechtigkeit, in deren Namen jeder dem anderen gegenüber nur seine Rechte einfordert.“ (Nr. 14) Die Welt kann nur dann menschlicher werden, wie es „Gaudium et spes“ fordert, „wenn wir in den vielgestaltigen Bereich der zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen zugleich mit der Gerechtigkeit jene ‚erbarmende Liebe’ hineintragen, welche die messianische Botschaft des Evangeliums ausmacht“ (Nr. 14 und GS 40). Jesus Christus selbst hat in seinem Leben und Sterben das Gegeneinander von Gerechtigkeit und Erbarmen aufgehoben. Beide haben ihren Ursprung und ihre Erfüllung in der Liebe. Darum gibt auch das Erbarmen der Gerechtigkeit eine neue Gestalt.
Für unsere Welt sind dies zunächst fremde Gedanken. Es ist nicht zufällig, dass man sich schon im germanischen Bereich schwer tat mit der Forderung nach „Barmherzigkeit“. Aber es schafft eben eine tiefere Erfassung der Würde der menschlichen Person. Das Erbarmen ruft eine neue und dauerhafte Form der „Gleichheit“ hervor. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden durch die sich erbarmende Liebe immer wieder gereinigt. Indem die Barmherzigkeit und das Mitleid an das Leiden und den Schmerz der Menschheit erinnern, werden wir auch in eine neue kreatürliche Solidarität hineingenommen. So lebt auch mancher revolutionäre Eingriff aus der Kraft des Mitleids, der Synthese von Kopf und Herz, Vernunft und Leidenschaft, aber leider ist sie ohne die Nachfolge Jesu Christi in der Gefahr der Entfremdung.
Barmherzigkeit und Erbarmen sind auch eine wichtige Klammer zwischen der Soziallehre der Kirche und der Heilsbotschaft. Sie zeugt von der letzten inneren Kraft des Evangeliums und der Kirche. Das so verstandene Erbarmen kann die Welt am tiefsten aus den Angeln heben. Die sich erbarmende Liebe ist die stärkste revolutionäre Kraft der Welt. Sie enthält ein explosives spirituelles Potenzial zur Veränderung der zwischenmenschlichen Beziehungen und auch der gesellschaftlich-politischen Strukturen. So kann man das Gewicht des Jesuswortes ermessen: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk 6,36)
Dies hat Konsequenzen für das Bild der Kirche heute. Wenn auch die Päpste gerade der letzten Jahrzehnte immer mehr an die Barmherzigkeit als Herz des Evangeliums überzeugend und kraftvoll erinnerten, so hat sich wohl in einer besonders prägenden und tiefen persönlichen Form Papst Franziskus hinter diese Botschaft gestellt. Deshalb will ich mit Dank an ihn diese Reihe und die heutige Predigt mit einem Wort von ihm schließen.
„Die Kirche folgt dem Herrn, und so ist sie aufgerufen, Barmherzigkeit zu üben gegenüber all jenen, die sich als Sünder erkennen, die Verantwortung für das begangene Übel übernehmen und sich als der Vergebung bedürftig empfinden. Die Kirche ist nicht in der Welt, um zu verurteilen, sondern um die Begegnung mit dieser ursprünglichen Liebe zu ermöglichen, die die Barmherzigkeit Gottes ist. Und ich sage immer wieder: Damit dies geschehen kann, ist es nötig hinauszugehen. Hinauszugehen aus den Kirchen und Pfarrhäusern, hinauszugehen und die Menschen dort zu suchen, wo sie leben, wo sie leiden, wo sie hoffen. Ein Feldlazarett, das ist das Bild, mit dem ich am liebsten diese „hinausgehende Kirche“ beschreibe, denn es wird dort aufgeschlagen, wo Kämpfe stattfinden. Es ist kein fest gemauertes Haus, in dem alles vorhanden ist und wo man hingeht, um seine großen und kleinen Wunden verbinden zu lassen. Es ist eine mobile Einrichtung für die Erste Hilfe, die Notversorgung, die man braucht, damit die Kämpfenden nicht sterben. Dort wird Notfallmedizin betrieben. Man nimmt dort keine ausgefeilten Untersuchungen vor. Ich hoffe, dass das außerordentliche Heilige Jahr dieses Gesicht der Kirche stärker hervortreten lässt, eine Kirche, die ihr Innerstes wiederentdeckt, ihre mütterliche Barmherzigkeit. Die den zahllosen Verwundeten entgegenkommt, die ihr Gehör brauchen, ihr Verständnis, ihre Vergebung, ihre Liebe.“ (Papst Franziskus. Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit A. Tornielli, München 2016, S. 74/75)
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
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