Wir könnten Gott mit einigem Recht auf die Anlagebank setzen. Wo ist Gott in dieser Zeit, in der Tausende von Menschen sterben, Glaubende und Nichtglaubende krank werden, unzählige Menschen wahrscheinlich vor den Scherben ihrer Existenz stehen? Wo ist Gott? Ich spüre zum einen, dass zu einfache Antworten nicht helfen, ich spüre zum anderen, dass viele Menschen in diesen Tagen Halt im Glauben suchen.
1755 wurde Gott zum ersten Mal auf die Anklagebank gesetzt. In jenem Jahr wurde Lissabon von einem gewaltigen Erdbeben heimgesucht, ein solch starkes Erdbeben war bis dahin in der europäischen Geschichte nicht überliefert. Heute gehen Historiker davon aus, dass es damals bis zu hunderttausend Tote in der Hauptstadt Portugals gab. Diese Naturkatastrophe hat Europa verändert. Sie war der Ausgangspunkt eines neuen Denkens über den Menschen und ein dramatischer Einschnitt in die optimistische Weltsicht und Fortschrittsgläubigkeit der damaligen Zeit. Gleichzeitig wurde 1755 zu einem Datum, ab dem eine große Bewegung weg vom Christentum einsetzte. Gott wurde zur Verantwortung gezogen: Entweder, so die Argumentation, ist Gott machtlos, dann ist es unsinnig, an ihn zu glauben. Oder er ist allmächtig, wie wir es ihm zuschreiben, aber dann ist er gnadenlos grausam. An einen solchen Gott wollten viele Menschen damals nicht glauben. Gott kam also auf die Anklagebank. Ein neues theologisches Wort wurde geprägt: „Theodizee“, d.h. Gott muss sich rechtfertigen vor der Vernunft. Für viele bedeutete dies: Gott muss weg, damit der Mensch endlich frei leben und atmen kann.
Die Reaktion damals war konsequent. In der Verkündigung war viel von der Allmacht Gottes die Rede. Gott kann alles, er steuert alles, er lenkt alles bis ins Kleinste. Folglich hat er auch das Erdbeben geschickt und hunderttausend Menschen in den Tod getrieben. Dieser Gott wird unerträglich, eine solche Allmacht erdrückt und vernichtet den Menschen. Denn sie ist ja reine Willkür. Und warum sterben diese hunderttausend, und andere überleben?
Die Rede von der alles steuernden Allmacht Gottes entsprach durchaus auch dem naturwissenschaftlichen Denken damals. Die Welt wurde als große Ordnung erlebt, alles hatte seinen Platz, alles erfüllte seinen von Gott gegebenen Auftrag. Was aber ist dann der Sinn dieses Massensterbens? Mit dem Erdbeben veränderte sich nach und nach auch das naturwissenschaftliche Denken, bis heute. Nach heutiger Vorstellung folgt nicht alles einem festen Plan und einer genau vorgeschriebenen Ordnung. Dies müssen auch unsere Verkündigung und unsere Sicht auf heutige Fragen ernst nehmen. Die Naturwissenschaften müssen, so sagt es einmal Papst Benedikt, auch unser theologisches Denken verändern. Es folgt nicht alles einer festen Ordnung; es gibt Zufall, Chaos, ja, es gibt so etwas wie freie Entwicklung in der Schöpfung. Ein neues Denken über Gott findet hier Raum: Gott, der Allmächtige, zeigt seine Allmacht nicht, indem er alles lenkt und steuert, sondern indem er freie Entfaltung, Naturprozesse, Zufälle, ja, natürliche Vorgänge laufen lässt und indem er Schöpfung sich frei entfalten lässt.
So geht der allmächtige Gott ja auch mit dem Menschen um, und genauso verhält er sich gegenüber der lebendigen Schöpfung, die sich in einer ständigen Entwicklung befindet. 1755 verabschieden sich Menschen von einem Bild Gottes, der aus unerklärlichen Gründen Leid zulässt, gute Menschen straft, und andere davonkommen lässt. Es ist ein Abschied von einem allmächtigen Gott, der willkürlich handelt und Leid und Strafen verhängt ohne Rücksicht auf Verluste.
Wir springen in unser Jahr 2020. Der Abschied von Gott in unserer heutigen Situation kann für mich nicht die Lösung sein. Ich will auf ihn vertrauen. Es bleiben jedoch Fragen: an Gott, den Allmächtigen, der vielleicht nicht die beste aller Welten geschaffen hat, der Leid zulässt, und Krankheit nicht verhindert, der in einer Welt wirkt, in der viele Menschen an ihre Grenzen kommen, physisch und psychisch, die nach ihm rufen und schreien, oder die es längst aufgegeben haben, nach ihm zu fragen. Wiederum sehen wir voll Entsetzen die grauenhafte Situation unserer Welt und vieler Menschen, die zahlreichen unschuldigen Opfer. Das fragt unser Gottesbild an. Wir können um der Vernunft willen nicht an dem Glauben festhalten, dass Gott alles willkürlich steuert – und den Tod dieser Menschen will. Papst Benedikt hatte genau dies in seiner sogenannten „Regensburger Rede“ betont: Gott kann nicht gegen sein Wesen handeln, das Liebe und Vernunft heißt. Allmacht bedeutet nicht Willkür. Gott säße erneut auf der Anklagebank. Ein schreckliches Bild Gottes. Und dennoch bleiben viele Fragen offen. Auch unser Glaube beantwortet sie vordergründig nicht mit ein paar schlauen Sätzen. Wo ist Gott?
1. Er kommt durch Menschen ins Spiel, die sich bewusst für andere einsetzen. Dass Menschen sich geben für andere, scheint mir einer der größten Gottesbeweise zu sein, die wir haben. Auch wir kommen ins Spiel, unser Gebet und unsere konkrete Hilfe, die wir leisten können. In den letzten Wochen haben wir herausragende Beispiele menschlicher Hingabe gesehen. Damit sind auch die alltäglichen Beispiele gemeint, wo Menschen ihre Arbeit tun, und sich dabei selbst in Gefahr bringen. Sie tun es vielleicht gar nicht so sehr aus einer bewusst christlichen Haltung heraus, sondern aus dem Gefühl, gebraucht zu werden.
2. Gott kommt ins Spiel, wo wir für die Menschen beten. Das Gebet wird ja wirklich erst sinnvoll, wenn wir Gott nicht für alles Unheil verantwortlich machen. Ja, es wäre geradezu grotesk zu sagen, er schickt es, und jetzt soll er helfen. Gebet öffnet Gott ein Fenster in diese Welt. Gebet verändert vielleicht nicht direkt die Welt, aber es verändert Menschen, und diese verändern die Welt. So beten wir, dass die Menschen gute Helfer finden, dass sie nicht in Mutlosigkeit versinken. Dass Gott Fenster öffnet, Heilung schenkt und neue Perspektiven schenkt. Das Gebet bewahrt vor menschlicher Überheblichkeit, als hinge alles von uns ab, von unserer Stärke, unserer Schnelligkeit, unserer Kraft. Wir lernen heute brutal unsere Grenzen kennen.
3. Es kommt eine wichtige religiöse Erfahrung ins Spiel: Wenn ich sehe, was derzeit geschieht, erfahre ich, wie hilflos und klein, wie vergänglich und vorläufig Leben und irdisches Glück sein können. Das ist eine Form von Glaubenserfahrung. Und doch glaube ich, dass Gott das Schicksal jedes Menschen kennt und Leben schenken will, über den Tod hinaus. Dafür steht unser Kreuz. Gerade am Karfreitag sehen und bekennen wir einen Gott, der keine theoretische Antwort auf das Leid gibt. Bevor wir Gott auf die Anklagebank setzen, sehen wir, dass er mit uns ist, das Leid trägt, durch Krankheit und Tod hindurchgeht – mit uns. In ihm sehen wir einen Gott, der sich mit allen Menschen im Leiden und Sterben identifiziert, und ihr Kreuz für sie mitgetragen hat. Dieser Glaube trägt mich und viele andere. Vor diesen Gekreuzigten tragen Menschen alles Leid der Welt. Sie glauben nicht an einen Zauberer, der alles Leid hinwegschafft. Sie glauben an einen Gott, der in das Dunkel geht und Mut macht. Und der am Ende den Tod besiegt. Warum dieser Gott Leiden zulässt in seiner Allmacht, darauf gibt er keine einfachen Antworten, sondern er antwortet durch sein Da-Sein!
Heute ist die Zeit zu beten. Für Lebende und Verstorbene, und für alle Helferinnen und Helfer. Ich schaue auf den Gekreuzigten: Gott ist der Liebende, ja, aber er ist auch der Rätselhafte, Undurchschaubare. Wir dürfen, ja wir müssen Fragen und Klagen äußern. Aber wir sollten nicht wie 1755 versuchen, von ihm Abschied nehmen. Die Welt braucht ihn gerade jetzt. Das Kreuz lädt uns zum Vertrauen ein, und dazu, ihm unsere Arme, Hände, Füße, Herz und Hand zu leihen, damit er auch durch uns handeln kann.