Wie nie zuvor meinen sich Menschen ihren Wert selbst geben zu müssen, durch Erfolg und Reichtum, durch Gesundheit und Aktivitäten. Sie übersehen, dass das Wichtigste, was uns wertvoll macht, ein Geschenk bleibt, das Gott uns gemacht hat.
An diesem adventlichen Abend blicken wir auf Maria, unsere Mutter, Fürsprecherin, Weggefährtin und Schwester im Glauben.
Jede Zeit entdeckt ihr Marienbild, das den Menschen Orientierung gibt. Und vielen Menschen ist ein bestimmtes Marienbild besonders wichtig. Oft war die schmerzhafte Mutter diejenige, die den Menschen besonders nahe war. In der Erfahrung von Flucht und Ausgestoßensein, in der Erfahrung des Leidens und des Dunkels kann sie vielen Menschen nahe sein – auch heute. In schwierigen Situationen des Lebens kann ein Blick auf Maria, die das Leiden ihres Sohnes mitgeht, die auch unser Leiden versteht, inneren Frieden schenken. Menschen erfahren Stärkung und Trost im Blick auf Maria, die uns ihren Sohn am Kreuz zeigt, der die Welt so sehr geliebt hat. Natürlich gibt es auch die Gefahr der Leidverherrlichung, als wäre Leid etwas Gutes. Ich glaube, dass dies die Wirklichkeit nicht trifft. Menschen erleben Leid, Schmerz und Tod und suchen Trost. Ich denke an Wallfahrtsorte, an denen Menschen ihr Leid abgeladen haben und in der Begegnung mit der Mutter Gottes Tröstung erleben durften.
Die Frömmigkeitsgeschichte kennt die „sieben Schmerzen“ Mariens, wobei die Zahl Sieben auf die Fülle der Schmerzen verweist. Maria ist den Menschen in den unzähligen Situationen der Schmerzen nahe. Das Bild der Schmerzensmutter zeigt, dass die Heiligen nicht über der Realität des Lebens standen, sondern Gottes Nähe erfahren konnten in den Herausforderungen und Prüfungen. Das gilt auch für Maria, die so oft dargestellt und verehrt wurde weit weg von den Themen der einfachen Menschen. Aber sie bildet eben auch eine Brücke zwischen Himmel und Erde. Ich denke selbst an die Kirchenerfahrungen meiner Kindheit und Jugend zurück. Marienfrömmigkeit spielte eine wichtige Rolle. Maiandachten, der Rosenkranz und die Wallfahrten stehen für mich bis heute für die Farbigkeit des Glaubens, für Schönheit, für Gemeinschaft. Es ist nicht gut, Maria und ihren Berufungsweg auf die schmerzhaften Erfahrungen des Glaubens zu reduzieren.
So kann es auch gut sein, dass es uns glauben hilft, wenn wir die Freuden Mariens betrachten. Die mittelalterliche Frömmigkeit hat neben den sieben Schmerzen auch eine Verehrung der sieben Freuden Mariens entwickelt. Die Nachfolge Jesu, das Ernstnehmen der Berufung, kann auch Freude bereiten, und das ebenfalls siebenfach, in Fülle. Dabei wird die andere Realität ja nicht ausgeblendet, aber mit Licht angestrahlt. Sieben Freuden Mariens verweisen uns auf die Fülle des Lebens, die in der Nachfolge Jesu bestehen kann. Die ersten sechs sind der Kindheitsgeschichte entnommen. Die Verkündigung, die Begegnung mit Elisabeth, die Geburt Christi, die Anbetung der Könige, die Begegnung mit Simeon, das Wiederfinden Jesu im Tempel. Maria darf erleben, wie die Begegnung mit Christus die Welt wirklich verwandelt. Wie ganz unterschiedliche Menschen Christus als die Erfüllung ihrer Sehnsucht entdecken. Zunächst einmal erlebt Maria selbst, dass Gott das Unmögliche möglich macht, eine Jungfrau wird Mutter, sie selbst darf Christus, den Erlöser zur Welt bringen. Sicher waren damit auch viele Fragen verbunden. Die Fragen stellen wir uns im Glauben auch heute noch.
Das Wichtigste an der Erfahrung Marias ist aber, dass Gott nicht jemanden deswegen erwählt, weil er groß, klug und mächtig ist. Gott macht die groß, die nicht allein auf ihre Stärke bauen. Gott gibt denen Würde, die bei anderen keinen Namen haben. Gott sieht nicht die Massen, sondern sieht den Einzelnen, in der Stille seines Hauses, in der Einsamkeit seines Herzens. Die erste Freude Mariens ist etwas Hochaktuelles, wenn sie auch manches moderne Denken auf den Kopf stellt. Wie nie zuvor meinen sich Menschen ihren Wert selbst geben zu müssen, durch Erfolg und Reichtum, durch Gesundheit und Aktivitäten. Sie übersehen, dass das Wichtigste, was uns wertvoll macht, ein Geschenk bleibt, das Gott uns gemacht hat. Würde und Bedeutung können uns nicht andere Menschen zuteilen, sondern wir haben sie: das ungeborene Kind hat sie, der Sterbende und Besinnungslose hat sie. Maria, die kleine Frau aus Nazareth ist in den Augen Gottes die Größte. Am heutigen Fest feiern wir, dass Maria vom ersten Augenblick ihres Lebens von Gott zu der großen Aufgabe bereitet wurde.
Die weiteren Freuden Mariens zeigen Christus als die Erfüllung der Sehnsucht der Menschen. Johannes der Täufer hüpft vor Freude im Schoss seiner Mutter, die Hirten beten an, genau wie die Könige, die alles stehen und liegen lassen, um ihn als das Licht der Welt zu finden, auch der alte Simeon erkennt Christus als die Sehnsucht, die ihn ruhig und erfüllt sterben lässt. Wenn diese Menschen Christus gefunden haben, haben sie alles. Reiche und Arme, Gesunde und Kranke, Gebildete und schlichte Menschen, sie alle entdecken Christus als die Wahrheit und das Fundament ihres Lebens. Marias Dienst besteht schlicht und ergreifend darin, alle diese Menschen mit ihm in Berührung zu bringen. Sie selbst tritt zurück, sie muss sich nicht selbst feiern lassen.
Die Kirche beginnt nicht mit Programmen und Papieren. Glaube überträgt sich in der Regel nicht durch noch so schlaue Bücher. Sondern er überträgt sich durch Zeuginnen und Zeugen, diejenigen, die Christus lieben, der sie zu anderen trägt. Und dann etwas von der Freude des Glaubens, von der Erfahrung weitergeben zu können, dass Gott eine lebendige, liebende Wirklichkeit ist, darin besteht der Dienst Mariens. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Glaube überträgt sich durch Beziehung zum Glaubenden. Glaube steckt dort an, wo jemand selbst Christus als den Schatz seines Lebens entdeckt hat. Wo deutlich wird, dass der Glaube für mich nicht nur eine Last ist, sondern der Lebensinhalt, der mich reich macht, der mir leben hilft. Wo ich Christus berührbar mache, weil ich meine alltägliche Arbeit mit Liebe mache, nicht nur aus Pflicht.
Christsein im Geiste Mariens ist selten etwas Spektakuläres, sondern etwas Alltägliches. Aber ich muss aufhören, Glaube als etwas Privates zu betrachten, der den anderen nichts angeht. Ich muss aufhören, Glaube als etwas Weltfernes zu betrachten, der peinlich ist. Es gibt tatsächlich für einen Glaubenden Menschen vielleicht nichts Schöneres als zu erleben, dass ich jemand anderem helfen konnte, ein froherer, zufriedener Mensch zu werden, indem er Christus und sein Angebot des Lebens kennen lernt, ohne Aufdringlichkeit, Überheblichkeit und Anmaßung, sondern in Bescheidenheit und Nähe.
Wir feiern heute im Haus der Theologie. Menschen mit unterschiedlichen Berufungswegen sind hier. Die Priesterkandidaten, die Mitglieder des Kollegs, die Schwestern, die jungen Menschen des COJ, die Verantwortlichen in der Ausbildung, die Schwestern und Brüder aus den pastoralen Berufsgruppen, sie alle sind Zeuginnen und Zeugen der Vielfalt in der Nachfolge und Suche nach den Wegen des Lebens. Auch in diesen Zeiten stehen wir dafür, für das Leben in Fülle zu werben, das sich in Freud und Leid, in Tat und Wort verwirklichen will.
Liebe Schwestern und Brüder, ich danke Ihnen für Ihr Dasein in diesem Haus und in unserem Bistum. Sie können das freudige und offene Gesicht unserer Kirche sein oder werden. Das geht nicht in der Verdrängung der Wirklichkeit, sondern in der Annahme und der Verwandlung. Für alle kommenden Wege wünsche ich Ihnen Gottes Segen.