Das neugeborene Jesuskind bekam an der Krippe nicht nur Besuch von den Hirten und später von den Weisen aus dem Morgenland. Kurz nach der Geburt betrat eine alte, von vielen Lebensjahren gebeugte Frau den Stall zu Bethlehem. Sie neigte sich über die Krippe und suchte dabei etwas Kleines und Unscheinbares aus ihrem Umhang hervor. Maria und Josef schauten verwundert auf einen verschrumpelten roten Apfel, den die alte Frau zu Jesus in die Krippe legte. Und in diesem Augenblick lächelte das Kind. Die Alte nickte erleichtert, seufzte und verließ ohne ein Wort den Stall.
So lautet die Erzählung. Es ist die alte Eva, die wir noch aus dem Paradies kennen. Die alte Frau ist die altgewordene Menschheit. Mit ihren Runzeln und Makeln, mit dem Leid und der langen Geschichte der Wanderschaft durch diese Zeit. Gott will die Welt als Paradies, und hat den Menschen beauftragt, die Welt zu gestalten. Wir wissen, wie es weitergeht. Der Mensch missbraucht seine Freiheit, er macht aus der Welt das, was wir heute kennen. Der Mensch, jeder Mensch, steht immer vor der Entscheidung, vor der Adam und Eva standen. Nutze ich meine Freiheit zum Guten oder zum Bösen? Erhalte ich die Welt so, wie sie Gott gewollt hat, oder bringe ich Gewalt, Hass, Neid, Unfrieden hinein? Die Welt ist kein Paradies mehr. Bereits nach Adam und Eva begegnen wir Kain, der seinen Bruder erschlägt. Damit beginnt die Weltgeschichte mit Licht und Dunkel. Es gibt Liebe und Hass, Krieg und Frieden, Leben und Tod. Und der Mensch hat die Freiheit, sich zu entscheiden. Gerade weil der Mensch so große Möglichkeiten und Gaben hat, erschrecken wir darüber, wozu der Mensch auch fähig ist. Über die Jahre ist die Menschheit wirklich alt geworden, Eva trägt die Spuren in ihrem alten Gesicht. Sie hat gelernt, dass sie sich nicht selbst retten kann. Sie muss lernen, auf Gott zu vertrauen, der die Liebe ist, der Vergebung und neue Hoffnung schenkt. Sie muss begreifen lernen, dass Gott diese alte Menschheit und die geschundene Erde nicht aus den Händen gibt. Diese Eva ist der Mensch, diese Eva bin ich, ist auch die Kirche. Dieser verschrumpelte Apfel ist das Symbol unserer Welt, unseres Lebens. Er ist die vom Terror geplagte Welt, er steht für die Menschen in Frankreich, in Syrien und Gott weiß wo noch. Er ist die tägliche Gewalt, er ist die Angst, er ist vielleicht auch der Groll, der in mir hochsteigt, wenn ich sehe, was in der Welt geschieht. Ich gebe nun den verschrumpelten Apfel, unsere Geschichte, meine Geschichte, diesem Kind in der Krippe. Gott ist jung, und wo er zu wirken beginnt, kann diese Welt neu werden.
Gott ist jung: der Papst baut ganz im Sinne der Heiligen Schrift auf Menschen, die Gottes Wort vernehmlich machen. Zwei „Typen" von Menschen braucht die Welt in besonderer Weise: Propheten und Träumer.
Propheten sind Menschen, die dem Neuen, das Gott schaffen will, ihre Stimme geben. In den vergangenen Wochen war oft von „systemischen" Problemen der Kirche die Rede. Systeme funktionieren, und oft ist es so, dass einzelne Menschen dem System geopfert werden. Systeme werden selten hinterfragt, sie funktionieren ja. Systemische Probleme gibt es in der Kirche, gibt es auch in der Gesellschaft insgesamt. Prophetische Themen sind die Gerechtigkeit, weil Gott sich besonders mit den Ausgebeuteten identifiziert, das Gericht über die, die ihre Macht missbrauchen; Propheten sind Kenner der Gegenwart und des menschlichen Herzens, sie kritisieren Institutionen, die sich über Menschen stellen. Von ihnen wird eine kompromisslose Übereinstimmung zwischen Leben und Predigt gefordert, sie solidarisieren sich mit den Leidenden, scheuen nicht, ihr Schicksal zu teilen bis zur Hingabe des eigenen Lebens. Sie leben aus einer Vertrautheit mit dem einen Gott und müssen doch manches Mal auch durch Gottesfinsternisse gehen. Ihre Hoffnung, die sie verkünden, ist keine billige Gnade, sondern neue Schöpfung, die gegen jeden Augenschein auf die Macht Gottes vertraut. Die Kirche braucht solche Propheten auch in den eigenen Reihen, Menschen, die aus einem tiefen Glauben heraus Systemkritik üben. Es wäre falsch, Propheten allein als Modell einer Kontrastgesellschaft zu verstehen. Sie leben inmitten des Volkes Gottes und inmitten der Gesellschaft und wollen den Menschen eine Erfahrung der Nähe Gottes vermitteln, so dass sie selbst zu Propheten werden können: Menschen, die aus Erfahrung glauben, ihre Zeit kritisch sehen und vom Wort Gottes her deuten, Widerstand setzen gegen jeden Machtmissbrauch in Religion und Politik, für Gerechtigkeit eintreten durch Tat und Wort und so Gott zum Recht verhelfen, der sich gerade an die Schwachen bindet. Propheten sind nicht nur die großen Gestalten der Geschichte Israels. „Gott der Herr spricht, wer wird da nicht zum Propheten, so steht es bei Amos" (3,8). Gott, der jung ist, braucht solche Propheten in der alt gewordenen Welt, er braucht Menschen, die gegen Gewalt, gegen Hass, gegen Missachtung anderer Menschen aufstehen, die sich nicht einbinden lassen in funktionierende Systeme.
Gott, der jung ist, braucht Träumer. Das sind keine Realitätsverweigerer. Gott spricht immer wieder in Träumen und zeigt dort Visionen einer neuen Welt. Die Weisen aus dem Morgenland sind solche Menschen, die aufbrechen in eine Zukunft, die ihnen der Stern zeigt. Es braucht heute Menschen, die in einer alt gewordenen Welt Visionen einer neuen Welt haben. Der Glaube an Gott ist eine starke Quelle solcher Visionen einer Welt in Frieden und Gerechtigkeit. Die Bibel ist voll von derartigen Hoffnungsbildern einer neuen Welt. „Seht, ich mache alles neu" – in der Hoffnung auf diese Zusage Gottes sind diese Menschen unterwegs. Sie stecken andere an, sich auf diesen Glauben einzulassen. Wir haben als Christen eine Vision einer Welt des Friedens und der Gerechtigkeit und wir sind in der Verantwortung, an dieser Welt mitzuarbeiten.
Wir dürfen unsere altgewordene Welt in Gottes Hände geben. Er ist jung, er schafft Neues. Wir dürfen seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein, Freunde Gottes und Propheten. Nehmen wir das neue Jahr aus seinen Händen, gehen wir mit seinem Wort und seiner Verheißung in die kommende Zeit.
[1] Papst Franziskus, Gott ist jung. Ein Gespräch mit Thomas Leoncini, Freiburg, Basel, Wien, 2018