Gott steht an der Seite jedes Opfers von Gewalt und Krieg

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf Ökumenischer Friedensgottesdienst zum 80. Jahrestag der Darmstädter Brandnacht Evangelische Stadtkirche Darmstadt, Mittwoch, 11. September 2024, 19 Uhr

Evangelische Stadtkirche Darmstadt (c) Lapping Pictures | stock.adobe.com
Datum:
Mi. 11. Sept. 2024
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Gott nimmt nicht Partei für eine bestimmte Nation, für ein bestimmtes politisches Interesse und auch nicht für religiöse oder religionspolitische Interessen, Gott lässt sich nicht für menschliche Interessen instrumentalisieren. Er steht auf der Seite eines jeden leidenden Menschen, geht dessen Wege mit, zählt die Tränen und will sie abwischen. Und mit diesem Blick schaue ich auch auf die Kriegsherde dieser Zeit. Gott sitzt nicht zwischen den politischen Stühlen, er verabscheut jede Gewalt, jede Aggression und er steht an der Seite jedes Opfers von Gewalt und Krieg. 

„Wie liegt die Stadt so wüste, die voll Volks war (…) Sie weint des nachts, dass ihr die Tränen über die Wangen fließen.“ So dichtete vor 350 Jahren Mattias Weckmann in Anknüpfung an die biblischen Klagelieder. Am heutigen Tag erinnern wir uns an die Tränen so vieler, auch hier in Darmstadt vor genau 80 Jahren. Die Zerstörung der Stadt war brutal. 11.500 Menschen starben in den Flammen, andere verloren Familie, Freunde und ihr Zuhause. Im Internet lese ich eine weitere erschütternde Information. Die Royal Air Force wollte bewusst zivile Ziele treffen. Auch andere Städte waren Ziel solcher Angriffe. Ein Wissenschaftler benennt die Gründe, die zum Angriff auf Darmstadt führten: „In der jeweiligen Nacht bestimmte eine Mischung aus Wetterlage, verfügbaren Einheiten und dem Zustand der deutschen Verteidigung die Auswahl der Angriffsziele“. Zudem wurde mit Waffen experimentiert, deren Wirksamkeit man an noch unzerstörten Städten testen wollte. Es waren zufällige Rahmenbedingungen, die die Zerstörung hier rechtfertigten und ermöglichten. Es relativiert in keiner Weise die deutsche Kriegsschuld und die unbeschreiblichen Verbrechen, wenn man vor der Gefühlskälte eines solchen Vernichtungswillens erschaudert.

Der damalige Krieg, die Menschenverachtung und die Zerstörungswut haben nicht nur Gebäude, sie haben auch Seelen von Menschen angegriffen, manche nachhaltig zerstört. Es gibt Untersuchungen darüber, dass Kriegserfahrungen noch über Generationen Menschen prägen. Bis heute gilt: Krieg ist menschenverachtend, er zerstört Zukunft, er zerstört Leben, er zerstört Moral und Werte, er weckt das Schlimmste im Menschen. Wenn wir heute in die Vergangenheit schauen, sehen wir auch die Kriegsschauplätze der Gegenwart. Auch heute weinen Menschen, verlieren ihre Lebensgrundlagen, ihre Zukunft, ihre Seele. In einem historischen Buch über Kriege habe ich einmal die Information gelesen, Kriege seien schließlich auch immer Motor gesellschaftlicher Entwicklung gewesen, danach sei es zu neuen wirtschaftlichen Aufschwüngen gekommen. Historisch mag das so sein, aber ich bitte um Verständnis, wenn ich nicht akzeptiere, dass damit Kriege, Vernichtung und Zerstörung in irgendeiner Weise gerechtfertigt werden können. Wir schauen in die Vergangenheit und erinnern uns vieler Tränen von Menschen. Mancher wird auch heute noch weinen, wenn er Zeuge dieser Ereignisse war oder Erinnerungen in sich trägt.

In einem theologischen Buch habe ich einmal über das sogenannte Jüngste Gericht gelesen: Wir denken immer, Gott schreibe alle Schuld der Menschen in ein großes Buch und dann werde vergolten. Das mag so sein, manche Texte der Bibel sprechen davon. Der Autor des Buches brachte auch die Zukunftsvision, dass Gott beim Jüngsten Gericht die Tränen zählen wird, die über das Leben eines jeden Menschen geweint wurden. Gott sieht die Trauer, das Leid, die Angst und den Schmerz im Leben eines jeden von Gewalt betroffenen Menschen. Ich halte dies für einen tröstlichen Gedanken. Gott nimmt nicht Partei für eine bestimmte Nation, für ein bestimmtes politisches Interesse und auch nicht für religiöse oder religionspolitische Interessen, Gott lässt sich nicht für menschliche Interessen instrumentalisieren. Er steht auf der Seite eines jeden leidenden Menschen, geht dessen Wege mit, zählt die Tränen und will sie abwischen. Und mit diesem Blick schaue ich auch auf die Kriegsherde dieser Zeit. Gott sitzt nicht zwischen den politischen Stühlen, er verabscheut jede Gewalt, jede Aggression und er steht an der Seite jedes Opfers von Gewalt und Krieg. Die Zeiten, in denen bei Kriegen gerufen wurde: „Gott will das“, sind ja nicht vorbei. Aber eine solche Behauptung ist und bleibt Gotteslästerung. Gott wird niemals Gewalt, Mord, Krieg und Vernichtung seiner Kinder wollen.

In den letzten Monaten bin ich verschiedentlich mit unterschiedlichen Gewalterfahrungen konfrontiert worden. Mit einer Gruppe der Friedensbewegung von pax christi waren wir in Auschwitz und haben dieser unvergleichlichen Menschenverachtung und Vernichtung gedacht. Ich war in dem französischen Dorf Maillé, in dem vor 80 Jahren 124 Menschen an einem Vormittag brutal durch Mitglieder der SS abgeschlachtet wurden. Heute stehe ich hier in Darmstadt, wo der Krieg ebenfalls viele tausend Menschenleben gekostet hat. Diese Gewalttaten lassen sich nicht vergleichen. Aber sie zeigen, dass Krieg, Rassismus und Gewalt nie etwas Gutes bringen. Bis heute nicht. Beim Katholikentag in Erfurt vor einigen Monaten war ich auf einem Podium zu Friedensfragen. Ich habe keine allumfassende Lösung für heutige Konflikte. Aber wenn von uns als Kirchen nur die Botschaft ausgeht, es brauche Waffenlieferungen in heutigen Konflikten und Kriegen, braucht es uns als Christinnen und Christen wahrlich nicht. Immer müssen wir bei aller Realpolitik auch die Friedensvisionen wachhalten. Ich denke auch an den Mut und die Kraft der Menschen nach den Zerstörungen der Städte, die den Aufbau angepackt haben. Ohne Zukunftshoffnungen wäre das nicht gegangen. Ich denke an die Menschen, die manchmal nach Jahrzehnten den Mut hatten, den Tätern die Hand hinzuhalten, weil sie ihre Zukunft nicht durch Hass und Rache, sondern durch mühsame Prozesse der Versöhnung prägen lassen wollten. In Europa sind in den Jahrzehnten aus vielen Feindschaften Freundschaften und Partnerschaften entstanden. Wenn wir heute neue nationalistische und völkische Töne hören, darf uns das nicht gleichgültig lassen. Feindschaft und Zerstörung beginnen im Herzen der Menschen, setzen sich in Worten und Taten um. Ein Tag wie heute muss auch als Aufforderung verstanden werden, eine Welt des Friedens zu gestalten, nicht nur im Großen der Weltpolitik, sondern auch im persönlichen Denken, Reden und Handeln. Darmstadt ist heute eine weltoffene, einladende und im Hinblick auf die Kirchen ökumenische Stadt. Es spricht für die positiven Kräfte im Menschen, dass er die Freiheit hat, zwischen Leben und Tod, Rache und Versöhnung zu wählen, und dass er immer wieder dazu fähig war, Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit zu gestalten. Darin zeigt sich, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist. Heute erschrecken wir vor der Gewalt durch Krieg, Terror, Hass und Menschenverachtung. Viele fühlen sich hilflos und ratlos. Gewalt und Tod können dauerhaften Frieden nie garantieren. Ich erinnere an einen Text aus dem Buch Deuteronomium, dem 5. Buch Mose (Kap.30, 19f.): „Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den HERRN, deinen Gott, hör auf seine Stimme und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben. Er ist die Länge deines Lebens, das du in dem Land verbringen darfst, von dem du weißt: Der HERR hat deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen, es ihnen zu geben.“ Der Glaube an den Gott, der Leben will, nicht Tod, möge uns heute bewegen, das Leben, die Versöhnung, die Liebe zu wählen und damit eine Welt zu gestalten, in der Leben möglich ist. Für mich bleibt die starke biblische Vision leitend, dass Gott eine Welt will, in der Menschen sich nicht in Freunde und Feinde einteilen und behandeln, sondern in der wir uns als seine Kinder und Ebenbilder begegnen. Und ich hoffe, dass Gott am Ende jede Träne abwischen wird.