Gottesdienst zum reli+ Begegnungstag für Religionslehrer und -lehrerinnen

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf am 4.9.2019 im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Mi. 4. Sept. 2019
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

„Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ‚Morgen Jungs. Wie ist das Wasser?‘ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: ‚Was zum Teufel ist Wasser?‘“[1]

 

Mit dieser Parabel beginnt David Foster Wallace seine Rede über die Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Studien. Zunächst geht es ihm darum zu zeigen, dass die offensichtlichsten Tatsachen diejenigen sind, die am schwersten zu erkennen und am schwierigsten zu diskutieren sind. Vielleicht ist das ein entscheidender Zugang zum Religionsunterricht: Tatsachen zu thematisieren, über die Kinder, Jugendliche und Erwachsene manchmal schon gar nicht mehr nachdenken: Themen des Lebens, des Miteinanders, der Welt. Und im Nachdenken kann es dazu kommen, dass man das Erstaunen neu lernt, das Weiterfragen nach den Gründen und Ursachen. Je mehr man ans Nachdenken über die alltäglichen Themen kommt, desto weiter eröffnet sich das Feld neuer Fragen. Hier könnte der Einwand kommen, dass dies ein guter Philosophieunterricht auch leisten müsse. Das ist richtig, denn die menschlichen Grundfragen sind der entscheidende Ausgangspunkt für Philosophie und Religion gleichermaßen. Im Religionsunterricht geht es nicht um das Kennenlernen religiöser Sonderwelten, sondern die Erschließung der Tatsachen menschlichen Lebens aus einem bestimmten Blickwinkel heraus.
Gehen wir in das heutige Evangelium hinein. Menschen in Notsituationen, mit Gebrechen, mit verschiedenen Sehnsüchten und Wünschen kommen zu Jesus, und viele kann er heilen. Dass es Menschen gibt, die mit besonderen Heilungsgaben ausgestattet sind, war für die Menschen damals nicht Außergewöhnliches. Neu ist die von Jesus vertretene Perspektive. In diesen alltäglichen Erfahrungen handelt Gott selbst, er wendet sich den Menschen zu, er ist sich nicht zu schade, auch der Fiebererkrankung der Schwiegermutter des Simon seine Aufmerksamkeit zu schenken. Ich kann derartige Erfahrungen mit den Augen des Glaubens sehen und deuten, oder nach anderen Ursachen suchen. Es gab nicht wenige Zeitgenossen Jesu, die seine Taten sehr wohl sahen, sie aber nicht als Zeichen des Gottesreiches verstehen wollten, weil sie Jesus ablehnten. Das Reich Gottes verwirklicht sich im Alltag, in den Begegnungen, im Miteinander der Menschen, soweit es von Liebe und Zuwendung geprägt ist. Wir finden Gott in dieser Welt, weil er hier unter uns ist und seine Spuren hinterlässt, oder wir finden ihn nicht. Wir finden ihn in der Person Jesu von Nazareth, der die Herrschaft Gottes verkörpert. Wir finden Gott und sein Reich, weil er zu uns kommt, in unserer alltäglichen Welt. Von dieser alltäglichen Welt auszugehen und die Glaubensperspektive einzuüben, ist der Religionsunterricht ein gutes Instrument. Dazu braucht es den Menschen, die Lehrerin, den Lehrer, der mit seiner Person wahrgenommen hat, dass wir uns im Wasser bewegen, um bei der anfänglichen Geschichte zu bleiben. Die Lehrerin, der Lehrer ist die Person, die Zeugnis davon gibt, dass wir uns im Wasser bewegen. Nicht umsonst greift der Apostel Paulus bei seinem Besuch auf dem Areopag in Athen das Wort eines Philosophen auf: „In ihm (Gott) leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ (Apg 17,18) Das Christentum steht für einen Gott, der uns umgreift und umfängt, wie die Luft, die wir atmen, der uns nahekommt, der alltäglich wird. Nachdenken über den Glauben verbindet sich so immer mit dem Wahrnehmen und dem Nachdenken über die Welt und den Menschen. Die Bibel als unsere wichtigste Glaubensgrundlage ist ja zunächst einmal eine große und beeindruckende Sammlung von Glaubenszeugnissen. Menschen erfahren, dass Gott sich ihnen zuwendet in ihre Welt hinein, ihre Kultur, ihr Denken und Erleben. Wir können uns von den Erfahrungen dieser Texte helfen lassen, den glaubenden Blick in unsere Welt, in unsere Tatsachen zu werfen. Das widerspricht nicht dem human- oder naturwissenschaftlichen Blick, es erweitert ihn. Ich kann über die Welt und den Kosmos staunen als naturwissenschaftlich Interessierter. Die Größe und die verwirrenden Zusammenhänge können wir immer besser erforschen und verstehen. Ich kann die Bibel zur Hand nehmen und lese im Buch Genesis den poetischen Text über die gute Schöpfung in sieben Tagen, eine Liebeserklärung an die Schöpfung und den Schöpfer. Der glaubende Blick ist der Blick der Liebe und des Staunens, der Blick, der nach dem eigenen Standpunkt fragen lässt. Die Bibel würde sagen, der glaubende Blick schenkt Weisheit, die mehr ist als Faktenwissen.

David Foster Wallace bestreitet, dass es einen konsequenten Atheismus geben könne[2]. Es gebe eine „Standardeinstellung“ im Menschen, die ihn an irgendetwas glauben lasse. „Es gibt keinen Nichtglauben. Aber wir können wählen, was wir anbeten.“ (S.30). Das wird mancher sogenannte Atheist sicher mehr oder weniger empört zurückweisen. Dennoch kommt ja kein Mensch an der Frage vorbei, was ihn trägt, was ihm die Kraft zum Weiterleben gibt. Wallace drückt es drastisch aus. Die Menschen brauchen eine Wahrheit, die ihnen gutes Leben vor dem Tod verspricht: „Sie dreht sich um die Frage, wie man dreißig oder sogar fünfzig Jahre alt wird, ohne sich die Kugel zu geben.“ (S. 34). Dieser Grund eines guten Lebens ist Objekt von Verehrung, manchmal auch der Anbetung: Geld kann so etwas sein, Schönheit und Kraft, Macht und Erfolg, vielleicht auch die Liebe oder die Verantwortung, die ich für andere trage. Irgendetwas glaubt wohl jeder Mensch, nur er beginnt nicht oder hört irgendwann auf, darüber zu reflektieren, wie die kleinen Fische im Wasser unserer Parabel. Religion und Religionsunterricht sind ein probates Mittel gegen die Gedankenlosigkeit und die Lebensroutinen. Sie weiten den Blick auf Gott, auf den anderen Menschen, auf die Verantwortung füreinander, auf die Schönheit des Lebens, die ohne den Glauben verschlossen bliebe. So geben Sie, liebe Lehrerinnen und Lehrer, Orientierung und eigenes Zeugnis. Sie wollen den Kindern und Jugendlichen zeigen, dass sie sich, egal wo sie sind, immer schon im Wasser, in Gott bewegen. Für diese Arbeit danke ich Ihnen und wünsche immer wieder neue Freude und neue Perspektiven auf Gott und sein Reich.

 

 

[1] David Foster Wallace, Das hier ist Wasser. Anstiftung zum Denken, Köln, 24. Auflage, 2019, 9.

[2] Vgl. ebd. 30-35.