"Heimkehren werde ich in das Haus des Herrn"

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf im Pontifikalrequiem zu Allerseelen, Hoher Dom zu Mainz, Dienstag, 2. November 2021

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Datum:
Di. 2. Nov. 2021
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts fehlen.“ (Ps 23,1). 

Der Psalm 23 gehört sicher zu den beliebtesten und schönsten Gebetstexten der Heiligen Schrift. Der Hirte trägt Verantwortung für die Schafe, er sorgt sich um sie, um ihr Wohlergehen, er liebt sie. Der Psalm 23 ist ein Lied großen Vertrauens. Wer so beten kann, sieht Gott als den Vater und Hirten, der uns Menschen auf gute Weide führt, wenn wir ihm vertrauen.

Doch beschreibt das Lied kein Hirtenidyll, sondern wirft einen Blick auf das menschliche Leben. Das Leben ist eine Wanderschaft mit Höhen und Tiefen. Es bleiben uns oft die Erinnerung an schöne Tage, die uns verbinden. Da gibt es aber auch das tiefe Tal und die Gefahren und Herausforderungen des Lebens. Auch dem Gläubigen werden derartige Erfahrungen nicht erspart. Und solche dunklen Täler hat es natürlich auch im Leben vieler unserer lieben Menschen gegeben, derer wir heute gedenken. Nicht wenige haben lange Zeiten der Krankheit und Dunkelheit erfahren. Allerdings haben nicht wenige auch den Glauben unseres Psalmisten geteilt und sicher immer wieder auch erfahren dürfen, was der Gläubige vor vielen Jahrhunderten aufgeschrieben hat: Auf der Wanderschaft trägt das Vertrauen auf Gott, den Hirten unseres Lebens. „Gott war mein Hirte mein Leben lang bis heute.“ (Gen 48, 15) wird dem sterbenden Israel beim letzten Segen seiner Söhne in den Mund gelegt. Ich kann mir vorstellen, dass uns heute auch unsere Verstorbenen mit diesen Worten segnen: Gott war mein Leben lang mein Hirte, bis heute. 

Die Hirtensorge Gottes endet nicht an der Schwelle des Todes. In frühchristlichen Grabstätten findet sich dieses Hoffnungsbild. Der Hirte trägt das Schaf, das er liebt, auf den Schultern zu den Wassern des Lebens. Dies ist tatsächlich ein anrührendes Bild. Denn hier haben wir es mit einem Schaf zu tun, das selbst nicht mehr gehen kann, das müde geworden ist, und von sich aus nichts mehr tun kann. Im Tod ist der Mensch völlig machtlos. Aber er wird nicht allein gelassen. Wenn wir uns nicht mehr auf eigene Kraft verlassen können, werden wir getragen. Die christliche Tradition kennt einen ähnlichen Gedanken im Hinblick auf den Tod Mariens, der Mutter Jesu. Eine Legende berichtet davon, dass zur Todesstunde Mariens sich alle Apostel am Sterbebett versammeln. Jesus kommt hinzu und nimmt Maria in seine Arme und trägt sie in das Paradies. Maler haben dies so dargestellt, dass Maria wie ein kleines Kind in den Armen ihres Sohnes ruht. Sie hat ihm in ihrem Leben ihre Arme geschenkt, sie hat ihn als Kind in den Armen getragen, nun wird sie wieder zum Kind in den Armen Jesu. Mir scheint dies ein wunderbares Bild auch in diesen traurigen Tagen zu sein. Im Sterben waren unsere Lieben nicht allein. Dort, wo wir nichts mehr können, können wir uns nur noch fallenlassen in seine Arme. Und wir werden so deutlich wie nie zu Kindern in seinen liebevollen Armen. Jeder Gläubige ist gerufen, Jesus seine Arme, seinen Verstand und sein Herz zu geben, wie wir es von Maria sagen. Wir hoffen für unsere Verstorbenen: „Er war mein Hirte mein Leben lang“ – bis heute. 

Im Laufe des Psalms verändert sich dann das Bild. Nicht mehr vom Hirten ist die Rede, sondern von der Gastfreundschaft: „Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde, (…) und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeiten“ (Ps 23, 5-6). Leben in Fülle ist Mahlgemeinschaft mit Gott selbst. Tatsächlich ist das ein Bild der Hoffnung, dass sich in der Heiligen Schrift immer wieder findet. Himmel ist Heimat nach der Pilgerschaft, ein großes Fest, Gemeinschaft, Erfüllung der tiefsten Sehnsucht des Menschen, einmal endgültig Heimat zu finden. Für uns Christen ist Jesus selbst das lebendige Brot, das uns ewiges Leben schenkt. Heimat ist nicht nur ein Ort. Heimat ist dort, wo wir Liebe erfahren, wo wir so sein können, wie wir sind, wo wir uns nicht verstellen müssen. Wir können nur in Bildern ahnen, worin unsere Hoffnung auch für unsere Verstorbenen besteht. Wir trauern, aber wir feiern auch – eine merkwürdige Kombination. Wir denken in Liebe und fühlen uns verbunden, aber wir können auch abgeben. Dazu ermutigen uns der Psalm und die vielen Worte Jesu, die von der Hoffnung auf eine ewige Heimat sprechen. 

Einer der erschütternden Augenblicke an jedem Begräbnistag ist das Hinabsenken des Verstorbenen in die Erde. Wir übergeben den Leib der Erde. Aber wir geben den Leib ab in andere Hände. In die Hände des guten Hirten, des liebenden Vaters, des treuen Bruders und Erlösers, der selbst durch das dunkle Tal des Todes gehen musste, um uns die Tür zu öffnen. In ihm, an seinem Tisch werden wir uns wiedersehen. Das ist mein Glaube, das ist unsere Hoffnung, die uns die Kirche heute anbietet. Wie oft mag Jesus selbst den Psalm gebetet haben, und ich glaube, dass unsere Toten ihn nun persönlich erfahren: 

„Der HERR ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen.
Er lässt mich lagern auf grünen Auen 
und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.
Meine Lebenskraft bringt er zurück. (…)
Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, 
ich fürchte kein Unheil;
denn du bist bei mir, 
dein Stock und dein Stab, sie trösten mich.
Du deckst mir den Tisch 
vor den Augen meiner Feinde.
Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, 
übervoll ist mein Becher.
Ja, Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang /
und heimkehren werde ich ins Haus des HERRN 
für lange Zeiten.