In den ersten Monaten durfte ich alle Dekanate des Bistums besuchen. Ich konnte wichtige Einblicke gewinnen und gute Gespräche führen. Ich habe dankbar gesehen, wie viele Menschen sich haupt- und ehrenamtlich engagieren, oft über das normale Maß hinaus. Manchmal finden sich die Ehrenamtlichen nicht, die unsere Gemeinden und Gruppen bräuchten, auch die Hauptamtlichen kommen nicht selten an ihre Grenzen. Ich nehme zwei Sehnsüchte wahr. Zum einen bieten unsere Gemeinden und Gruppen für viele Menschen noch ein letztes Stück Heimat, die ihnen an anderen Stellen wegbricht. Daher sehnen sie sich nach Stabilität. Sie hätten gerne, dass alles so bleibt, wie es ist. Schauen wir uns die Entwicklungen in Kirche und Welt genau und ehrlich an, merken wir jedoch deutlich, dass vieles nicht so bleiben kann und bleiben wird. Zum anderen erreichte mich eine hohe Erwartung auf Veränderung. Dabei geht es nicht um Veränderung um jeden Preis, aber doch um den starken Wunsch, die kommenden Wege bewusst zu gestalten und nicht nur im Nachhinein zu reagieren. In diesem Sinne haben wir einen pastoralen Weg in den Blick genommen, der im kommenden Jahr konkret beginnen wird. Ich lade Sie alle ein, diese Wege mitzugehen, auch weil wir keine andere Wahl haben, den sich verändernden Zeiten und Herausforderungen aktiv zu begegnen. Vor allen praktischen Fragen, die sich naturgemäß immer wieder in den Vordergrund schieben, möchte ich herzlich einladen, die geistlichen und persönlichen Haltungen anzuschauen, die uns im Glauben und im kirchlichen Leben leiten. Sind wir, bin ich persönlich sprachfähig, wenn Menschen mich fragen, warum ich noch katholisch bin und an Gott glaube, und dies in einer Kirche wie unserer? Bei allen Schwierigkeiten ist die Kirche für mich immer noch die Gemeinschaft der Glaubenden, in der sich Christus schenkt in seinem Wort, in den Sakramenten und in der Gemeinschaft so vieler überzeugter und überzeugender Menschen. Der pastorale Weg möchte uns neu vor die Frage stellen, worin wir unsere Aufgabe in dieser Welt sehen, was wohl Gottes Wille in dieser Zeit sein kann. In der kommenden Fastenzeit wird uns dieses Thema verstärkt zu begleiten beginnen. Wenn wir diese geistlichen Fragen für zweitrangig oder für religiöse Spielerei hielten und sie in den Hintergrund drängten, bräuchten wir die praktischen strukturellen Fragen gar nicht erst stellen. Wir stehen vor der Herausforderung, die richtigen Prioritäten setzen zu lernen. Dabei kann uns nur das Evangelium helfen. Und wir können diese Wege nur gemeinsam gehen: Bischof, Priester, Haupt- und Ehrenamtliche und das ganze Volk Gottes. An diesem wichtigen Punkt im Leben unseres Bistums spreche ich hoffnungsvoll das Gebet: „Herr, dir in die Hände / sei Anfang und Ende / sei alles gelegt.“
Ein wichtiger Abschnitt im Leben unseres Bistums waren die Monate der Krankheit, des Sterbens und der Beisetzung unseres Kardinals Karl Lehmann. Ich habe damals eine Zeit erlebt, die sehr dicht von Gebet und Miteinander geprägt war. Viele Menschen haben Anteil genommen, aus nah und fern. An den Tagen kurz vor seinem Tod und in den Tagen danach war die Gebetsatmosphäre fast mit Händen zu greifen. Für mich, das darf ich sagen, waren es bei aller Trauer geistliche Tage, die mir für das persönliche Leben zeigten, wie notwendig es ist, auch im religiösen Leben Prioritäten zu setzen. In meinem Glauben geht es im Wesentlichen nicht um die Kirche, so unverzichtbar sie für mich ist. Es geht um das ewige Leben, das mir und allen Menschen verheißen ist. Manchmal frage ich mich, ob in unserer kirchlichen Verkündigung dieser Gedanke noch herausragend ist, oder nicht doch für viele zu einer Floskel verkommen ist. Kardinal Lehmann schließt sein Geistliches Testament mit den Worten „Auf Wiedersehen!“ und diese tiefe Hoffnung auf ein Wiedersehen habe ich auch an das Ende meiner Predigt beim Requiem für den Kardinal gestellt. Das ist für mich mehr als eine Gefühlsduselei. Ich bemühe mich um diesen Glauben, dass es für mich und die Vielen eine ewige Gemeinschaft in Gott gibt und geben wird. Wenn dies nicht so ist, ist alles andere, was wir in der Kirche tun, hohl und leer, es hat kein Fundament (vgl. 1 Kor 15, 12-19). Wir sind dann betrogene Betrüger. Der Glaube an Christus als Auferstandenem ist für mich der letzte Maßstab meines Handelns, aber auch des Handelns der Kirche. Im letzten bewegt mich immer wieder die Frage, ob das, was ich tue, vor ihm, der auch miein Richter sein wird, Bestand haben kann. Der Tod des Kardinals war ein starkes Zeichen einer solchen Hoffnung. Und er lädt ein zum Innehalten und zur Orientierung auf den hin, der ewiges Leben schenken kann. „Herr, dir in die Hände / sei Anfang und Ende / sei alles gelegt“.
Ebenfalls geistliche Tage und Erfahrungen, wenn auch ganz anderer Art, waren die Begegnungen mit Jugendlichen bei der Wallfahrt der Ministrantinnen und Ministranten in Rom und bei der Jugendsynode in Mainz. Oft erwarten die Menschen ein stärkendes Wort des Bischofs. Diese Begegnungen waren für mich Stärkung im persönlichen Glauben, und dafür danke ich herzlich. Über diese Tage hinaus ist mir manches neu bewusst geworden. Glaube lebt in Begegnungen und in der Gemeinschaft. Niemand kann für sich alleine glauben. Unsere zukünftigen pastoralen Pläne müssen solche Erfahrungsräume des Glaubens leichter machen. Ich habe Jugendliche erlebt, die gläubig, suchend, fröhlich, fragend, politisch und auch kritisch sind. Diese Vielfalt und die Dynamik müssen wir nicht nur aushalten, wir müssen sie wollen und fördern. Papst Franziskus hat einmal sinngemäß formuliert, dass es nicht „die“ Jugend gebe, wohl aber „die Jugendlichen“, in aller Unterschiedlichkeit und Vielfalt. Und er fügt an: „Über die Jungen (Menschen) zu sprechen, bedeutet, über Verheißungen zu sprechen, und es bedeutet, über die Freude zu sprechen“. Ich spüre auch, dass es mir und vielen Verantwortungsträgern in der Kirche nicht gelingt, ihre Sprache zu sprechen, oder überzeugende Antworten auf manche ihrer kritischen Fragen zu finden. Ob wir uns das auf Dauer leisten können? Ich hoffe, dass unsere Jugendlichen laut werden, wenn uns zu sehr das Argument bewegt, was auch in unserer Kirche immer wieder zu hören ist: „Das war schon immer so“. Wenn der Papst sagt, Gott selbst sei jung, macht er deutlich, dass Gott sich nicht an Gewohnheiten und menschliche Traditionen binden will, sondern immer neu ist. Ich denke gerne an die Höhepunkte im Rahmen des eintausendjährigen Domjubiläums in Worms. Dort haben wir nicht nur die große Tradition, sondern auch eine aufgeschlossene Kirche gefeiert, die in die Zukunft gehen will. Das möge uns auch im kommenden Jahr bewegen. „Herr, dir in die Hände / sei Anfang und Ende / sei alles gelegt.“
Und das Jahr war von dem dunklen Thema Gewalt, vor allem der sexualisierten Gewalt, gegen Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene in der Kirche geprägt. Das Thema wird uns weiter beschäftigen, und die betroffenen Menschen werden uns hoffentlich nie gleichgültig werden. Im Bistum gehen wir weitere konkrete Schritte zu einer Aufarbeitung und einer tieferen Einsicht in die Verbrechen und dem System, das diese Taten mit ermöglicht hat und möglicherweise noch immer ermöglicht. Ich hoffe, dass wir den Fragen nach geistlicher Macht und den spezifischen Bedingungen in der Kirche nicht ausweichen. Der Glaube vieler Katholiken und darüber hinaus ist erschüttert. Und ich gestehe dies für mich ebenfalls. In vielen Momenten spüre ich Ratlosigkeit und Ohnmacht, und ich hätte mir eine derartige dunkle Seite der Kirche nie vorstellen können. Aber es gibt sie, da ist nichts zu beschönigen. Ich erfahre bei all dem, dass Menschen dennoch weiter glauben und in der Gemeinschaft bleiben. Sie haben die Hoffnung auf Veränderung und Umkehr nicht aufgegeben. Auch dies ist für mich ein starkes Zeichen und ein Geschenk. Die Zukunft wird zeigen, wie es uns gelingt, nicht nur der Kirche, sondern in erster Linie dem Evangelium wieder Glaubwürdigkeit zu geben. Ich danke allen, besonders auch den von Gewalt in der Kirche betroffenen Menschen, die sich in den letzten Monaten als Gesprächspartnerinnen und –partner zur Verfügung gestellt haben. Ich habe viel gelernt. Wir dürfen das Thema und die Menschen nicht als Fälle abhaken. Aber dazu braucht es den Segen Gottes. „Herr, dir in die Hände / sei Anfang und Ende / sei alles gelegt.“
Vieles gäbe es zu sagen. Oft sind kleine Erlebnisse und Erfahrungen prägend und bewegend. Einzelne Menschen und Gespräche, Begegnungen und Momente. Ich gebe alle in Gottes Hände. Möge er vollenden, was wir beginnen.
[1] Papst Franziskus, Gott ist jung. Ein Gespräch mit Thomas Leoncini, Freiburg, Basel, Wien, 2018, S.12.