Heute legen wir das Leid der Welt vor das Kreuz, wir legen es in Jesu Hände

Predigt in der Feier vom Leiden und Sterben Christi („Karfreitagsliturgie“) im Hohen Dom zu Mainz am 29. März 2024

Kreuz (c) Bistum Mainz
Datum:
Fr. 29. März 2024
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Mit einer Gruppe von pax christi waren wir Anfang März in Polen, die ersten drei Tage in Auschwitz und Birkenau. Es war gut, dass wir uns Zeit gelassen haben, an diesen Orten zu beten, sie zu sehen und uns den Geschichten der Hunderttausenden von Opfern zu stellen. Es war ein Blick in den Abgrund des Bösen.

Es fehlen die Worte, um zu beschreiben, wozu Menschen fähig sind. Über den Lagerleiter Höss und seine Familie ist ein Film erschienen. Nachdem er Tag für Tag den Massenmord organisiert hatte, führt er nach Dienstschluss ein freundliches Familienleben. Der Lärm des Lagers, die Asche der Verbrannten, der hunderttausendfache Mord scheinen ihn und seine Familie nicht zu berühren. Ein anderes Beispiel erzählt von einem Offizier, der jeden Morgen ins Lager kommt und wahllos einen Häftling erschießt. Es ist eine Überforderung, all diese Erfahrungen und noch viel mehr an sich heranzulassen. Menschen jüdischen Glaubens, Polinnen und Polen, Sinti und Roma, Homosexuelle und andere Gruppen sind dort wie in vielen anderen Vernichtungslagern ihrer Würde beraubt, zu einer Nummer degradiert, ermordet worden. Hannah Arendt hat nach Auschwitz und den Prozessen gegen die Verantwortlichen von der Banalität des Bösen gesprochen. Die Täter waren Menschen, keine Monster. Ich bin wieder erschrocken über das Böse, zu dem Menschen fähig sind. Der Blutstrom der Geschichte ist nicht versiegt. Bis heute blicken wir auf Mord, Totschlag und Menschenverachtung. Wir sehen, wie Menschen andere Menschen erniedrigen und ihnen zuletzt das Leben nehmen.

In der Passionsgeschichte hören und erleben wir ein einziges Beispiel, von Millionen anderen ist nicht die Rede. Und doch ist es Teil meines Glaubens, dass in diesem einen Menschen die Millionen anderen vereint sind. Er ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. In ihm haben alle von Gewalt, Leid und Tod Betroffenen ein konkretes Gesicht. Niemand ist vor diesem Christus eine Nummer, jeder und jede ist in seinen Wunden Wirklichkeit und Gegenwart. Als Christinnen und Christen verehren wir einen Gott, der sich aus dem Leid dieser Welt eben nicht heraushält. Er leidet mit, er trägt mit, er gibt allen Würde und Einzigartigkeit. Wer in seiner Nachfolge lebt, wird auch den anderen Menschen nie als Nummer sehen.

In Auschwitz sind wir einen Kreuzweg gegangen. Das Vernichtungslager ist ein riesiger Friedhof, bis heute kommen Knochen an die Erdoberfläche, z.B. durch Tiere. Ich musste mir klarmachen: Wir denken an unzählige Persönlichkeiten, mit jeder einzelnen wurde eine ganze Welt zerstört. Im Leidensweg Jesu finden wir das Leiden so vieler Menschen bis heute wieder. All diese Welten sind seit jeher in Gottes Händen. Angesichts des Leids der Welt auch in unseren Tagen ist dies ein unglaublich starkes Glaubensbekenntnis und es ist eines, das mich nicht verzweifeln lässt. Dieser eine Mensch am Kreuz hat alles Leid dieser Welt in Gottes Gegenwart gehalten. Wir schauen in das abgrundtiefe Dunkel der Gewalt, des Todes und des Bösen. Jesus selbst hat es erduldet. Das ist keine einfache Lösung, denn auch sein Kreuz bleibt eine Frage und ein Anstoß.

Wir schauen allerdings nicht ausschließlich in den Abgrund des Bösen. Die Größe des Menschen zeigt sich in seiner Fähigkeit zum Guten. Es gab einen Maximilian Kolbe, der für einen anderen Menschen in den Tod gegangen ist. Es gibt bewegende Zeugnisse, wie Menschen ihr knappes Brot mit anderen teilen und auf andere Weise Verantwortung für andere übernehmen.  Oft aus dem Glauben an den gekreuzigten Christus, oft aus einem bleibenden Sinn für Würde und Menschlichkeit. Die Würde des Menschen zeigt sich darin, dass sie den anderen nicht zur Nummer werden lässt, sondern in ihm einen Bruder oder eine Schwester sieht. Daher werden menschenverachtende Diktaturen am Ende nie das letzte Wort haben, wie auch Gewalt und Tod nicht. Heute legen wir das Leid der Welt vor das Kreuz, wir legen es in Jesu Hände. Er geht und trägt mit. Schließlich sind wir eingeladen, Licht im Dunkeln zu sein – in seinem Namen und im Namen der Würde jedes einzelnen Menschen.