In der Kirchenmusik treffen Glaubenswelten aufeinander

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Gottesdienst zum Abschluss des Diözesankirchenmusiktags 2018 Worms, Dom Sankt Peter, Samstag, 15.9.2018

Datum:
Sa. 15. Sept. 2018
Von:
Bischof Peter Kohlgraf
Musik bewegt: wie sehr gerade die Kirchenmusik tiefste Emotionen berührt, kann ich biographisch an einigen Erfahrungen bezeugen. Vor einigen Jahren bin ich aus dem Erzbistum Köln ins Bistum Mainz gezogen und lernte dort einen anderen Diözesananhang im „Gotteslob“ kennen. Ich gebe zu, dass ich besonders an Weihnachten und Ostern einige Lieder schmerzlich vermisst habe, die ich aus Kindheit und Jugend kenne, und die für mich unverzichtbar zu den Festen gehörten. Musik steckt tief „in den Knochen“, sie gehört zu bestimmten Anlässen wie ein bestimmter Duft oder anderes, was man nicht vergisst. Mittlerweile entdecke ich auch die Schönheiten des Mainzer Eigenteils, besonders auch im neuen „Gotteslob“. Die Feste hängen eng mit Musik und Gesang zusammen.

Eine weitere Erfahrung: Als ich Theologie studierte und im Theologenkonvikt in Bonn lebte, studierten dort mit mir gleichzeitig 160 andere Priesterkandidaten. Sie repräsentierten eine große Bandbreite theologischer Positionen, Spiritualitäten und kirchlicher Praxis. Oft rieb man sich an den Haltungen der anderen, man diskutierte und stritt nicht selten, auch über die Gestaltung von Liturgie. Besonders an der musikalischen Gestaltung erwies sich, ob ein Gottesdienst akzeptabel war oder nicht: für die einen war es der lateinische Choral, für die anderen der Gitarrengottesdienst oder manche andere Form. Manche kamen mit ihrer Toleranz anderen gegenüber an die Grenzen. Musik ist Ausdruck des Glaubens, um dessen legitimen Ausdruck man dann emotional ringen kann.

In der Kirchenmusik treffen Glaubenswelten aufeinander. Schaut man in die jüngere Kirchengeschichte, dann war Kirchenmusik oft der deutlichste Gradmesser für bestimmte Glaubenshaltungen. Die liturgische Bewegung bereits vor dem II. Vatikanischen Konzil hatte „von keiner Seite mit so starkem Widerstand zu rechnen wie von Seiten der Kirchenchöre und nicht weniger Vertreter der Kirchenmusik.“[1] Manche befürchteten durch die Einführung der Volkssprache ein Ende des gregorianischen Chorals und der großen Chorwerke der Vergangenheit zumindest in der Liturgie. Dagegen standen Komponisten und Liebhaber neuer geistlicher Lieder, die wir teilweise noch heute kennen, manche sind vergessen, nicht alles waren Meisterwerke, um es vorsichtig zu formulieren. Ich erlebe in den letzten Jahren neben den großen Werken der Tradition eine sehr qualitätsvolle neue Kirchenmusik, die Ausdruck heutigen Glaubens und Betens sein kann. Und ich erlebe auch, dass man heute den gregorianischen Choral neu schätzen lernt, weil man sich befreit hat von bestimmten ideologischen Bewertungen. Ich erlebe, dass die Polarisierungen nicht mehr in der Heftigkeit ausgelebt werden, sondern Liebhaber unterschiedlicher Stile miteinander leben können, und dass wir heute wichtige musikalische Bausteine einer sich lebendig weiter entwickelnden Tradition geschenkt bekommen. Unsere Zeit braucht einen heutigen Ausdruck des Glaubens, so dass Herz und Stimme zusammenklingen können.

1000 Töne weiter – so lautet das Motto des heutigen Tages. Hinter diesem Titel sehe ich den großen Reichtum der Kirchenmusik, der alten wie der neuen, die uns geschenkt ist. Kirchenmusik ist daher eine der schönsten und farbenfrohesten Ausdrucksformen der lebendigen Tradition, ein Reichtum von unschätzbarem Wert (SC 112), Ausdruck des gelebten und bezeugten Glaubens der Menschen in der Kirche, großartiges Glaubensbekenntnis, das uns bis heute trägt und verbindet. Kirchenmusik ist Ausdruck der Vielfalt möglicher Glaubens- und Frömmigkeitsformen. Sie verhindert jeden Uniformismus, jede Eintönigkeit. Wer die Musik schätzt, erfährt, wie sich unterschiedliche Formen und Lebensweisen in der Kirche gegenseitig bereichern können, wie unterschiedlich man glauben und beten kann. Die Musik zeigt die Kirche wirklich als einen lebendigen Organismus, in dem der Geist Gottes immer wieder Kreativität und spannend Neues hervorbringt. Und gleichzeitig ist die Kirchenmusik Ausdruck einer tiefen Einheit im Glauben. Glauben ist Einheit in Vielfalt, Vielfalt in Einheit. Vielleicht kann man dies nirgends so hautnah erfahren, wenn man selbst musikalisch aktiv ist und sich in einer Gemeinschaft in den Gottesdienst einbringt. Was in der Musik gelingt, sollte Kennzeichen des gesamten kirchlichen Miteinanders sein, wo man oft Meinungen vertritt und manchmal nicht daran interessiert ist, auf den anderen zu hören. In der Musik muss man sich im gleichen Rhythmus bewegen, man muss aufeinander hören und aufeinander achten. Im kirchlichen Alltag wird Vielfalt nicht immer als Reichtum erlebt, die Musik wird desto interessanter, je farbenreicher sie ist. Viele Debatten sind nur noch laut und schrill, die Musik wird gerade da interessant, wo sie die leisen und zarten Töne ebenso würdigt. So ist Musik eine gute Schule des Lebens und des Miteinanders, auch über die Musik hinaus.

Das führt uns zu einem weiteren Reichtum der Kirchenmusik. Das II. Vatikanische Konzil ermutigt die Gläubigen, sich als aktiv Handelnde in die Liturgie einzugeben. Sie sind nicht Zuschauer oder Besucher, vielmehr verrichten jede und jeder in der Liturgie einen priesterlichen Dienst, indem er oder sie sich hineingibt in die Hingabe Christi an den Vater. Das Konzil spricht von der „tätigen Teilnahme“ der Gläubigen, von dem Wunsch, dass eine Liturgie nicht nur gültig, sondern mit geistlichem Gewinn gefeiert werden könne (SC 11). Wir lernen heute, dass diese tätige Teilnahme nicht in Aktionismus bestehen kann, auch nicht in einer Anhäufung von Texten. Ich habe in 25 Jahren Priesterdienst manches Mal erlebt, dass dies oft in guter Absicht so praktiziert wurde: viel Aktion, viele Texte, die man gar nicht bewältigen kann. Tätige Teilnahme meint aber etwas anderes. Sie möchte den ganzen Menschen in das Geheimnis Gottes hineinführen, er soll verwandelt werden, mitgerissen werden in eine größere Wirklichkeit. Die Musik scheint mir ein unverzichtbarer Weg zu dieser tätigen Teilnahme zu sein, deswegen ist sie nicht nur Beiwerk, sondern ein Vorgeschmack oder eine Ahnung einer größeren Wirklichkeit. In der theologischen Sprache ist dies gemeint, wenn von der Teilnahme an der himmlischen Liturgie gesprochen wird, an der wir hier teilnehmen dürfen. Besonders der Gesang und die Musik verbinden Himmel und Erde, sie können eine nicht in Worten zu beschreibende Glaubenserfahrung vermitteln und ausdrücken. So sind wir auch hier 1000 Töne weiter: vorausschauend auf das, was uns verheißen ist.

Ich erinnere mich noch gut an die Wallfahrt der Ministrantinnen und Ministranten nach Rom und die lange Papstaudienz. Dort wurden viele Texte gesprochen, die meisten auf Italienisch oder Englisch. Viele Jugendliche werden nur wenig von dem Gesprochenen verstanden haben. Ich dachte schon während der Feier: hätten wir doch mehr gesungen, noch mehr Musik gemacht, dann wären Sprachbarrieren leichter zu überwinden gewesen. Musik hätte besser Vielfalt und Einheit, Herz und Stimme bewegt, sie hätte noch besser den Himmel öffnen können. Ich danke heute allen, die sich haupt- und ehrenamtlich in unserer Diözese für die Kirchenmusik engagieren. Sie bringen Menschen zusammen, zusammen als Gemeinschaft, zusammen mit Gott, dem der Lobpreis gilt.

[1] So der Kommentar von Josef Andreas Jungmann zur „Konstitution über die Heilige Liturgie“, in: LThK², Das zweite Vatikanische Konzil. Dokumente und Kommentare, Darmstadt 2014, 94f.