Der größte Teil der Christen ist getauft, sie halten einen äußerlichen Kontakt zur Kirche, indem sie die Kirche finanziell unterstützen, und gegebenenfalls erwarten sie an wichtigen Stationen des Lebens eine kirchliche Begleitung: Sie lassen ihre Kinder taufen, bringen sie zum Fest der Erstkommunion, spenden sich im kirchlichen Rahmen das Sakrament der Ehe und lassen ihre Verwandten zu Grabe geleiten. Ansonsten schauen sie an Weihnachten und vielleicht noch an Ostern vorbei. Über ihren persönlichen Glauben sagt das nicht unbedingt viel aus, aber die Kirche kommt nur punktuell vor. Das hat es immer gegeben, das ist kein neues Phänomen. Andere besuchen die Gottesdienste an den Sonntagen, mehr oder weniger regelmäßig, sie brauchen diesen geistlichen Ruhepunkt. Nicht wenige engagieren sich in der Caritas, in der Hilfe für andere Menschen, empfinden aber die anderen kirchlichen Angebote als unattraktiv. Dann gibt es die Menschen, die in unseren Gemeinden und Verbänden, in der Caritas und in den vielen kirchlichen Angeboten engagiert sind, die das kirchliche Leben prägen und mitgestalten auf vielfältige Weise. Die jeweilige Nähe oder Distanz zur Kirche kann sich im Laufe eines Lebens verändern. Man kann sagen: zur Kirche gehören ziemlich normale Menschen, mit den alltäglichen Freuden, Sorgen, Fragen und Hoffnungen, die Menschen nun einmal haben. Wenn wir über die Kirche in unserer Gesellschaft sprechen, reden wir in den binnenkirchlichen Debatten oft über „uns“ und „die“ Menschen draußen, als gäbe es zwei Welten. Auch wir Christen sind Kinder dieser Welt, leben in dieser Gesellschaft, sind Teil dieser Gesellschaft. Und nun sagt uns das heutige Evangelium etwas über unseren Auftrag und über die Art und Weise, wie dieser Auftrag in dieser Welt zu leben ist. Das Evangelium ermutigt und ermahnt, es nicht beim „normalen“ Christsein zu belassen. Nachfolge Jesu ist im besten Falle ganzer Einsatz. Jesus wird gegenüber seinen Jüngern sehr konkret.
Jesus erinnert an den kommenden gewaltsamen Tod am Kreuz. Wer Christ ist, lebt in einer Schicksalsgemeinschaft und Lebensgemeinschaft mit Jesus. Das muss man erst einmal verinnerlichen. Taufe ist keine unverbindliche Kindersegnung, sondern der und die Getaufte wird gerufen, so zu sein und zu leben, wie der Herr es vorgelebt hat: die Nähe zum Vater im Himmel, die Liebe zu den Menschen, die Vergebungsbereitschaft. Kann ein einzelner Mensch dies überhaupt? Im Zusammenhang der Fluchtbewegung der letzten Jahre sind auch Menschen zu uns gekommen, die als Christen vor der Verfolgung geflohen sind. In ihren Heimatländern ist es ihnen wegen ihres Glaubens lebensgefährlich geworden. Wir hören hier von ihnen sehr wenig. Aber weltweit leben viele wegen ihres Glaubens an Christus in der Situation der Unterdrückung und Verfolgung. Es ist wichtig, dass wir uns an ihr Schicksal erinnern. Denn zum einen können unsere Solidarität und unser Gebet ihnen Hoffnung geben, zum anderen reißt uns der Blick auf die Situation so vieler Menschen weltweit aus unserer Bequemlichkeit und Gewohnheit. Manchmal reicht es in der Nachfolge Jesu eben nicht mehr, „normal“ zu glauben, wie es die Mehrheit tut, sondern ich muss beginnen, Farbe zu bekennen. In der „Offenbarung des Johannes“ wirft Christus der Gemeinde in Laodizea vor, dass sie „weder kalt noch heiß“ sei (Offb 3,15). Ein lauwarmes Christsein begeistert niemanden, und es hilft im letzten auch dem nicht, der so lebt. Die vielen oben beschriebenen Formen des Christseins wird es immer geben. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir uns in eine Zukunft der Kirche bewegen, in der es immer mehr davon abhängen wird, dass Menschen sich bewusst in der Nachfolge Jesu positionieren. Dass sie bewusst leben und bezeugen, wie es ist, von Christus fasziniert zu sein. Diese Faszination bezeugen sie nicht im Binnenraum der Kirche allein, sondern mitten in der Welt, in der sie leben: im Tun der Liebe am Menschen, im Verzeihen, im Einsatz für die Schwächsten der Gesellschaft und die Würde aller Menschen, im Gebet, im Gottesdienst, und in vielem anderen, durch das der Glaube konkret werden kann. Frère Roger Schutz von Taizé es so formuliert: „Lebe das, was du vom Evangelium verstanden hast. Und wenn es noch so wenig ist. Aber lebe es.“ (zitiert aus „Gotteslob“ 451)
Zu oft geht es uns um Macht. Tausende Beispiele könnten hier genannt werden. Die derzeit erschreckende Thematik sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist auch eine von Macht und Missbrauch von Macht. Der Münsteraner Bischof Felix Genn hat im Rahmen der Jugendsynode in Rom auch die Gefahr geistlichen Machtmissbrauchs thematisiert, wenn in einer geistlichen Begleitung Menschen Lösungen und Meinungen übergestülpt werden, die nicht aus ihnen selbst kommen. In vielen heutigen und kommenden Diskussionen auf unserem zukünftigen Weg im Bistum Mainz wird es um Machtfragen gehen: wird bekommt mehr Geld, wer hat mehr Einfluss, wird hat das Sagen? Kompetenzen müssen diskutiert werden, aber immer vor dem Hintergrund der kritischen Frage: wem willst du eigentlich dienen? Machst du dich zum Sklaven für andere, oder willst du im Letzten über andere herrschen? Willst du, dass alle „nach deiner Pfeife tanzen“, oder willst du Menschen zu einem freien und erwachsenen Leben und Glauben verhelfen? Die Frage muss ich mir als Bischof auch immer wieder selbst stellen. Ich bekomme immer wieder Briefe, in denen Menschen über andere urteilen, oft über Menschen, die anders leben und glauben, als man selbst es für richtig hält. Ich als Bischof muss nicht alles gut finden, was Menschen machen. Oft wird mir dann geschrieben: Sagen Sie denen mal, was richtig ist. Der Ton, der oft vorherrscht, ist jedoch der der Belehrung und des Verurteilens. Möchten Menschen wirklich anderen nützen und dienen, oder anderen einfach nur die gefühlte Wahrheit wie einen nassen Lappen um die Ohren schlagen? Ich fürchte, letzteres. Das kann nicht der Stil des Evangeliums sein, egal in welcher Frage. Fast jeder von uns hat Macht über einen oder mehrere andere Menschen. Diese Macht unter dem Gesichtspunkt des Dienens und der Verantwortung immer wieder kritisch zu befragen, ist der Auftrag des Evangeliums. Insofern können wir den Jüngern von damals dankbar sein, dass sie den Streit über die Bedeutung und Macht stellvertretend für uns führen, sich aber auch stellvertretend für uns alle zurechtweisen lassen. Die Logik dieser Welt, in der die Mächtigen um den eigenen Machterhalt besorgt sind, darf nie die bestimmende Logik der Jüngerinnen und Jünger Jesu sein.
Viele Menschen tun dies auf bewegende Weise: die Pflege kranker Angehöriger, die Sorge um die Kinder, der ehrenamtliche Einsatz für andere. Jesus fragt uns, ob es jemanden oder etwas gibt, für das wir brennen und für das ich mich persönlich hingebe. Vielleicht motiviert mich der Glaube, das zu tun, auf jeden Fall muss Liebe im Spiel sein. Sobald ich mich aus Liebe hingebe, hört mein Christsein auf, lau zu sein, hört es auf langweilig und nichtssagend zu sein. Liebe ich noch? Brenne ich noch? – Diesen Fragen kann ich heute nicht mehr ausweichen. Möge unser heutiger Festtag ein Anruf sein, sich auf diesen Weg Jesu neu einzulassen: in die Lebensform Jesu einzusteigen, sich zum Sklaven zu machen, und sich hinzugeben in der Liebe zu anderen. Vielleicht lassen sich dann auch andere anstecken, den Weg des „Normalen“ zu verlassen.