Jeder Mensch muss seinen Weg der Heiligkeit finden und gehen. 

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf  beim Pontifikalamt am Hochfest Allerheiligen im Hohen Dom zu Mainz am Montag, 1. November 2021

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Datum:
So. 31. Okt. 2021
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt, hat Papst Benedikt XVI. einmal in einem Interview gesagt. Das ist wichtig im Hinblick auf die vielen Heiligen, die wir heute feiern und im Hinblick auf die Frage, wie denn unser ganz persönlicher Weg der Heiligkeit aussehen kann. Wenn wir Heilige als Vorbild nehmen, geht es nicht darum, einen Heiligen zu kopieren. Keiner von uns muss ein heiliger Franziskus oder eine heilige Elisabeth, ein heiliger Martin oder ein heiliger Nikolaus werden. Wenn ich den Satz des Papstes ernst nehme, geht es darum, dass ich meinen ganz eigenen Weg der Heiligkeit gehe. Von der hl. Birgitta von Schweden gibt es ein schönes kurzes Gebet, das dies ausdrückt: „Herr, zeige mir den Weg, den du für mich vorgesehen hast und mache mich bereit, ihn zu gehen.“ Jeder Mensch muss seinen Weg der Heiligkeit finden und gehen. 

Heiligkeit, das klingt nach Perfektion, nach absoluter Glaubenssicherheit und danach, dass für uns alles glatt läuft mit dem Glauben. Für manche mag der Heilige auch immer ein bisschen weltfremd oder zumindest weltabgewandt sein. Es war eine der wichtigsten Aussagen des II. Vatikanischen Konzils, dass es alle Christen an ihre Berufung zur Heiligkeit erinnerte. Damit ist eben nicht die vollkommene moralische Hochleistung gemeint. Vielleicht kann man Heiligkeit so beschrieben: Lass in deinem alltäglichen Leben etwas von deiner göttlichen Würde und Schönheit durchscheinen. 

Der Priester, die Ordensfrau oder der Mönch ist nicht zu einer größeren Heiligkeit gerufen als die Mutter oder der Vater, als „normale Menschen“, als das Kind oder der Jugendliche. Damit formuliert das Konzil einen sehr hohen Anspruch an jeden von uns. Die Heiligkeit einer verheirateten Christin wird anders aussehen als die eines Christen, der bewusst auf eine solche menschliche Bindung verzichtet. Bei dem oder der einen wird sich die Heiligkeit vielleicht darin zeigen, täglich neu in der Gemeinschaft der Familie den Weg der Liebe und der Versöhnung zu gehen, was alles andere als einfach ist. Der Unverheiratete muss sich ebenso um seine Form der Liebe und Treue mühen. In Gesprächen erfährt man als Priester oft, dass Menschen von ihm eine besondere Vorbildlichkeit – man könnte auch sagen: Heiligkeit und Glaubensfestigkeit – erwarten. Das tun sie zu Recht, aber der Priester muss das Kompliment auch zurückgeben dürfen: Sie alle sind genauso zu Ihrer Form der Heiligkeit gerufen, es mit der Nachfolge und dem Christsein ernst zu nehmen. Paulus beschreibt die Kirche nicht umsonst mit dem Bild vom Leib, der nur leben kann, wenn alle Glieder an ihrer Stelle ihren Dienst im Zusammenklang mit den anderen tun. Jeder und jede muss den Weg der Heiligkeit, der Nachfolge finden und gehen, und den wirklich mit ganzem Herzen und ganzem Verstand. Der Dienst jedes einzelnen in der Gemeinde, in der Kirche und in der Welt, den er oder sie aus Liebe zu Christus und den Menschen tut, ist genauso wichtig und unverzichtbar wie der Dienst des Bischofs oder des Papstes. 

Das Konzil beschreibt, worin die Heiligkeit besteht: Gott die Ehre geben und dem Nächsten mit ganzem Herzen dienen. Das ist nichts anderes, als das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe wirklich ernst zu nehmen. Wenn wir uns fragen, was Heiligkeit für mich persönlich wirklich bedeutet, dann ist das konkret die Frage: Wie kann in meinem Leben Gott und der/die Nächste diesen wichtigen Platz finden? Das kann bedeuten, das Gebet noch stärker zu pflegen, der Wertschätzung der Sakramente den entscheidenden Raum zu geben; das kann bedeuten, den beruflichen Alltag so zu gestalten, dass konkrete Entscheidungen wirklich mit Hilfe eines christlich geprägten Gewissens getroffen werden. Gott die Ehre zu geben bedeutet, die kleinen Aufgaben des Alltags auch als Dienst an der Verwirklichung des Reiches Gottes wertzuschätzen. Keine Tat ist zu klein, als dass Gott sie nicht schätzen würde, wenn wir sie denn zu seiner Ehre verrichten. Gott die Ehre zu geben bedeutet nach dem Evangelium auch Gott im Nächsten zu achten und zu ehren. Das kann manchmal die schwerste Form der Gottesliebe sein. 

Schließlich nennt das Konzil einen weiteren Punkt, der für die Berufung zur Heiligkeit bedeutsam ist. Der Weg zur Vollkommenheit führt über die Gemeinschaft mit Christus und über das Kreuz, das heißt auch über ein geistliches Ringen. Jesus hat vorgelebt, dass der Weg zum Heil meist der schmalere Weg ist und nicht der breite und bequeme (vgl. Mt 7,13-14). Ein Kirchenvater der frühen Kirche formuliert sehr schön: Wer aufsteigt, hört nie auf, durch endlose Anfänge von Anfang zu Anfang zu schreiten. Das bedeutet, sich auf dem Weg der Nachfolge nie ganz zurückzulehnen und damit zufriedenzugeben, was auf dem persönlichen Glaubensweg erreicht worden ist. Es gibt Fortschritte und Rückschläge, Glaubensfreude und Zweifel. All das gehört zu diesem Weg der Heiligkeit dazu. 

Ich will beten: Herr, zeige mir den Weg meiner Heiligkeit und Nachfolge und mache mich bereit, ihn zu gehen. Ja, als Christ muss ich meinen Weg der Nachfolge finden und in Freiheit gehen. Ich muss meine Form finden, Gott und den Nächsten zu lieben, ich muss meinen Weg gehen, der oft eng sein kann. Heute feiern wir, dass dies der Weg zum Leben ist.