Jeder Tag der erste

Glauben bedeutet, auf der Suche nach einer größeren und tieferen Wirklichkeit zu bleiben: der Wirklichkeit Gottes

Bischof Kohlgraf (c) Bistum Mainz
Datum:
Fr. 5. Jan. 2018
Von:
Bischof Peter Kohlgraf
Ist das Leben nur spannend, wenn eine Aktion die nächste jagt? Glauben bedeutet nicht pausenlose Aktion, betont Bischof Peter Kohlgraf. Und lädt im „Wort des Bischofs“ ein, auf der Suche nach der Wirklichkeit Gottes zu bleiben.

„Jeder Tag der erste, jeder Tag ein Leben. Jeden Morgen soll die Schale unseres Lebens hingehalten werden, um aufzunehmen, zu tragen und zurückzugeben. Gott liebt die leeren Hände."
Diesen Satz hat einer der großen Glaubenden des 20. Jahrhunderts formuliert: Dag Hammarskjöld, Generalsekretär der UNO, der 1961 bei einem Flugzeugabsturz in Afrika zu Tode gekommen ist. Seine Tagebücher zeigen ihn als einen wirklichen Gottsucher, der davon überzeugt ist, dass jeder Tag eine Einladung ist, Gott zu suchen, dem Leben Sinn zu geben und die Welt zu verändern.
„Jeder Tag der erste, jeder Tag ein Leben. Jeden Morgen soll die Schale unseres Lebens hingehalten werden, um aufzunehmen, zu tragen und zurückzugeben. Gott liebt die leeren Hände", schreibt er.
Wer seine Zeit so sehen und annehmen kann, fühlt sich nicht einem blinden Schicksal ausgeliefert. Sich einem blinden Schicksal ausgeliefert zu fühlen – das ist eigentlich die tragischste Auffassung, die ein Mensch von seinem Leben haben kann. Wer an die Sterne glaubt, die sein Schicksal vorgeben, wer ängstlich sein Horoskop studiert, um zu sehen, was ihm vorgezeichnet ist, kann eigentlich nur noch ängstlich von Tag zu Tag leben und schauen, was eine fremde Macht ihm bereitet hat. Auch die Einstellung, alles sei Zufall, überzeugt nicht.
In dem Bild der leeren Hände, die annehmen, tragen und zurückgeben können, wird ja ein persönlicher, liebender Gott vorausgesetzt, mit dem ich in ständigem Austausch bin. Ich halte ihm am Morgen nicht ängstlich meine Hände hin, sondern hoffnungsvoll und vertrauend, weil ich von seiner Liebe überzeugt bin. In diesem Vertrauen kann ich meine Zeit leben und gestalten. Gott gibt mir nicht einfach meinen Lebenslauf vor und ich habe mich zu fügen. Ich bekomme in meine leeren Hände das ‚Rohmaterial', das ich dann gestalten muss. Und am Abend kann ich ihm meine gelebte Zeit als ein Kunstwerk zurückgeben, meine Stärken hinhalten und danken, meine Schwächen darbieten und glauben, dass er das Begonnene vollendet.
So gehört zu einem christlichen Leben das Gebet am Morgen und am Abend. Es kann sehr kurz, muss aber wahrhaftig sein. Vielleicht besteht es morgens in einer Geste, ihm die leeren Hände hinzuhalten, am Abend ihm meinen Tag wiederzugeben mit einem herzlichen Dank und der ehrlichen Bitte um Vergebung.
Jeder Tag ist ein Leben, jeder Tag ist der erste: Sicher war der Autor dieses Satzes vielen alltäglichen, immer wiederkehrenden Vorgängen ausgesetzt, manchmal der Versuchung eines Mächtigen, alles selbst leisten zu sollen. Wer aber so formulieren kann, empfindet seine Zeit nicht als langweilig oder leer. Das Leben als Gabe und Auftrag bleibt interessant.
Wir leben in einer Zeit, in der eine Aktion die nächste jagen muss – bis hinein in die Kirche. Glauben bedeutet aber nicht pausenlose Aktion, um das Leben noch spannend finden zu können. Glauben bedeutet, auf der Suche nach einer größeren und tieferen Wirklichkeit zu bleiben: der Wirklichkeit Gottes.
Was für mein gesamtes Leben gilt, kann ich jeden Tag einüben: meine leeren Hände hinhalten, tragen und gestalten und am Ende wieder in Gottes Hände zurückgeben.
In diesem Sinne stellen wir das noch neue, unbekannte Jahr 2018 unter den Segen Gottes: „Heute soll die Schale unseres Lebens hingehalten werden, um aufzunehmen, zu tragen und am Ende zurückzugeben. Gott liebt die leeren Hände."