Kein einfaches „weiter so!“

Predigt im Rahmen des Gottesdienstes zum Fakultätentag in Mainz, Augustinerkirche Mainz, Freitag, 26. Januar 2024, 18:30 Uhr

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Datum:
Fr. 26. Jan. 2024
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Ein Glaube ohne Gemeinschaft hat kein Fundament und keine Substanz. Wird die Bedeutung der Gemeinschaft für das Glaubensleben des Einzelnen ausreichend reflektiert? Wird die Bedeutung der Caritas, des Religionsunterrichts, der Seelsorge und der Nähe der Seelsorgerinnen und Seelsorger zu den Menschen vor Ort betont? Reagieren die kirchlichen Strukturen und die Theologie auf solche Entwicklungen?

Vor wenigen Wochen ist die Kirchenmitgliedschaftsstudie veröffentlich worden. Zwar sind noch nicht alle Details bekannt, aber die Grundlinien sind offengelegt. Ihre Ergebnisse sind auch von theologischer Relevanz. Zunächst mahnen sie uns alle, uns der Realität zu stellen: Wir leben in einer säkularen Gesellschaft. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sieht in Religion und Kirche keine Relevanz für ihr Leben. Ich erinnere mich an meine Habilitationsschrift, in der ich mich mit der Theologie der Alexandriner der ersten Jahrhunderte beschäftigt habe. Sie alle gehen, wie weite Teile der christlichen Tradition, davon aus, dass der Mensch aufgrund seiner Geschöpflichkeit offen ist für die Frage nach Gott, dass die Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen ihn öffnet für den einen Gott, der ihn geschaffen hat.

Die Studie offenbart eine andere Wahrnehmung. Menschen, die nicht glauben, vermissen in der Regel nichts, fühlen sich nicht defizitär und reagieren vielleicht zu Recht empfindlich, wenn ihnen von kirchlicher Seite eine Sehnsucht nach „mehr“ unterstellt wird, die sie nicht haben. Sie sehnen sich weder nach dem ewigen Leben noch suchen sie eine transzendente Dimension ihres Lebens. Religiosität gehört offenbar nicht zur menschlichen Grundkonstante. Muss deswegen die komplette theologische Anthropologie Karl Rahners vom „anonymen Christen“ als irrelevant abgehakt werden oder muss sie vielleicht neu aufgerollt werden? Ich bin gespannt, inwieweit sich darauf auch die theologische Forschung einstellt. Andererseits wird die Bedeutung der Glaubensgemeinschaft für die Glaubenshaltung und Glaubenspraxis deutlich: „Jesus ja - Kirche nein“, „Ich kann Christ sein ohne Kirche“ - entspricht nicht der Realität. Ein Glaube ohne Gemeinschaft hat kein Fundament und keine Substanz. Wird die Bedeutung der Gemeinschaft für das Glaubensleben des Einzelnen ausreichend reflektiert? Wird die Bedeutung der Caritas, des Religionsunterrichts, der Seelsorge und der Nähe der Seelsorgerinnen und Seelsorger zu den Menschen vor Ort betont. Reagieren die kirchlichen Strukturen und die Theologie auf solche Entwicklungen?

Als Bischof frage ich mich, ob die kirchlichen Veränderungen in den Diözesen tatsächlich theologisch fundiert sind oder ob sie nur der Not geschuldet sind. Bistümer und Bischöfe ohne Theologie sind arm dran. Unsere Studierenden sehen, dass sie mit der Kirche vor dem Hintergrund des Missbrauchsskandals einem Generalverdacht unterliegen. Wie können wir sie motivieren, ohne die Realität schönzureden? Menschen erwarten Reformen, doch gehen Reformen tiefer als kosmetische Veränderungen? Es muss uns gelingen, Haltungen zu verändern, wofür nach aller historischen Erfahrung Generationen notwendig sind. Die Weltkirche scheint eher zu lähmen als zu motivieren, wobei Weltkirche auch nicht gleichbedeutend mit römischer Kurie ist.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Rollen sitzen Bischöfe, Theologinnen und Theologen in einem Boot. Wir spüren wohl, dass die kirchlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen uns alle nicht unberührt lassen, es gibt für uns alle kein einfaches „weiter so!“. Alle sind in der Gefahr, sich in der je eigenen Denkblase zu bewegen. Mit Interesse habe ich in den letzten Wochen die Diskussion um das Gutachten zur Habilitationsschrift von Josef Ratzinger verfolgt. Michael Schmaus hat ihm wohl vorgeworfen, theologische Positionen anderer nur nach dem Kriterium auszuwählen, ob sie seine eigene Position bestätigen. Gegenteilige Positionen würden verworfen. Ich glaube, dass nicht nur Bischöfe geneigt sind, so zu agieren.

Wir stehen derzeit in unterschiedlichen synodalen Prozessen. Kürzlich ist das Synthesepapier der Weltsynode erschienen. Die unterschiedlichen theologischen und politischen Positionen sind benannt. Nichts ist herausgefallen. Was das dann am Ende für kirchliche Entscheidungen bedeutet, bleibt zunächst offen, aber es ist erst einmal ein starkes Signal, dass jede Stimme gehört wird. Am Ende kann es natürlich in kirchlichen Diskussionen nicht nur um die Nennung der Themen und Meinungen gehen. Das Lehramt und auch die Theologie werden Stellung beziehen müssen, aber auch unter Berücksichtigung anderer theologischer und wissenschaftlicher Welten. Dazu gehört auch, sich gegebenenfalls in Frage stellen zu lassen. Die Realität wahrzunehmen, auch wenn sie nicht gefällt, halte ich für ein notwendiges Desiderat. Dazu gehören auch binnenkirchliche Wirklichkeiten. Wenn ich in die Heilige Schrift schaue, lese ich realistische Texte in großer Vielfalt. Unterschiedlichste Glaubens- und Lebenserfahrungen werden zugelassen, es gibt nicht die eine richtige Linie. Lehramtliche Aussagen tun sich nicht selten schwer damit, theologische Lehre mit der Vielfalt menschlicher Lebenserfahrungen verbinden zu können und nicht leichtfertig in richtige und falsche Glaubenszugänge zu unterteilen. Auch Theologie unterliegt der Gefahr, die eigene Blase zu bedienen. Insofern sind Lehramt und Theologie keine Konkurrenten. Neben schwierigen Erfahrungen mit Gott und den Menschen entwickeln biblische Autorinnen und Autoren immer wieder Hoffnungsvisionen. Das wäre ein Wunsch nicht nur an Amtsträger und Menschen in der Verkündigung der Kirche, sondern auch an Theologietreibende. Um die Zukunft erfolgreich zu gestalten, müssen wir realistisch bleiben und gleichzeitig Visionen für die Kirche, die Gesellschaft, die Schöpfung und die verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens entwickeln. In meiner Tätigkeit als pax-christi-Präsident sind Menschen immer wieder für den Realismus und gleichzeitig für visionäre Ausblicke auf die Möglichkeiten Gottes dankbar.

Wenn Theologie auch die Zeit deutet, und in ihr die Zeichen der Zeit, ist sie nicht einfach Kind des sogenannten Zeitgeistes, wie ihr manchmal unterstellt wird. Der Hinweis auf den Zeitgeist ist ein Totschlagargument. Theologie nimmt keine populistischen Positionen ein, aber sie muss Kennerin des Wortes Gottes, der Tradition, aber eben auch der Zeit und Kultur sein, in der sie sich entfaltet. Nehme ich das Synthesepapier der Weltsynode ernst, wird es keine Positionen oder Problemlösung geben können, ohne dass den Ortskirchen in den jeweiligen Kulturen auch eigene Verantwortung und Entscheidung zugesprochen wird. Am Papier über die Segnungen für Paare wird dies derzeit dramatisch deutlich. Der Zeitgeist, den manche geißeln, ist ja durchaus vielfältig. Es gilt ihn wahrzunehmen und im Geist des Evangeliums zu deuten. Ich nehme durchaus unterschiedliche Seiten wahr und wir müssen uns mit einigen Herausforderungen auseinandersetzen. Dazu gehört insbesondere der Umgang mit Individualismus und der Versuchung von Macht und Geld. Wir müssen uns auch bewusst sein, dass die Sprache des Hasses, Spaltung und Aggression uns nicht weiterbringen werden. Stattdessen sollten wir uns auf die Werte der Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit konzentrieren und uns für Solidarität mit den Ausgegrenzten einsetzen. Diese Werte sind nicht nur in der Kirche, sondern auch in unserer Gesellschaft von großer Bedeutung. Die Theologie sollte keine Angst davor haben, zum einen kritische Fragen an den Zeitgeist zu stellen, zum anderen aber mutig die Seiten des Zeitgeistes zu fördern und in die Kirche zu tragen, die dem Evangelium entsprechen. Gerade in diesen Tagen habe ich große Bedenken, wenn Kirche nicht glaubwürdig für Demokratie und Gerechtigkeit eintreten kann. Theologie als Wissenschaft kann Fragen und Themen der Welt und der Menschen in die Diskussion einbringen, die andere Wissenschaften unter Umständen aus dem Blick verlieren.  

Zu einem synodalen Stil in der Kirche gehört wohl auch, immer mehr zu lernen, sich in den verschiedenen Aufgaben und Rollen zwischen Theologie und Lehramt wertzuschätzen und sich zuzuhören. Wir sitzen insofern in einem Boot, als dass wir versuchen müssen, mit den Menschen unserer Zeit in der Kirche und außerhalb im Gespräch zu bleiben, indem wir akzeptieren, dass sie auch ohne uns leben könnten. Dennoch gilt es einen Mehrwert des Lebens im Gespräch zu halten, den wir in dieser Zeit neu und anders reflektieren und formulieren müssen. Theologie als Wissenschaft entdeckt vielleicht auch „Mehrwerte“ des Lebens bei Menschen, die nicht glauben. Sie hinterfragen Glaubensgewissheiten und dringen in unsere Blasen ein, in denen wir uns vermeintlich sicher bewegen. Theologinnen und Theologen stehen in einer Verbindung zur Kirche, deren konkrete Gestalt sie auch kritisch anfragen. Ich halte das für legitim. Theologie muss Reformen anregen, die mehr sind als Kosmetik. Als Bischof komme ich gut damit klar, theologisch nicht nur Bestätigung zu erfahren. Ich bitte aber darum, nicht ausschließlich durch die Brille der Macht und des Machtmissbrauchs betrachtet zu werden.

Ich gebe zu, keine besonders systematische Predigt vorgelegt zu haben. Gedanken gehen mir durch den Kopf, denn natürlich bleibe ich als Bischof mit meinem Hintergrund Zeitgenosse, Christ, Theologe, Suchender, Fragender und Glaubender. Ich verstehe mich nicht als Vertreter eines „Systems“. Ich bin dankbar für meine vielen theologischen Lehrerinnen und Lehrer, ich bin dankbar für den Dienst, den viele Theologinnen und Theologen heute leisten. Es ist ein spannender Beruf, Bischof zu sein, und es ist eine spannende Aufgabe, sich theologisch zu betätigen, sich herausfordernden Themen zu stellen und sich dabei auf diese Zeit und Kultur einzulassen. Nicht nur für den schulischen Bereich gilt, dass die Persönlichkeit eines Menschen oft wichtiger ist als die reinen Lehrinhalte. Ich danke Ihnen, dass Sie Ihre Persönlichkeit einbringen in Lehre, Glauben und Leben. Für Ihre und unsere gemeinsamen Bemühungen erbitte ich den Segen Gottes.