Seit Kindertagen gehört die Feier der Osternacht für mich zu den schönsten Gottesdiensten. Als Kind fand ich es aufregend, am späten Abend mit der Mutter und dem Bruder in die Kirche zu gehen, um dort diesen nächtlichen langen Gottesdienst mitzufeiern. Die Kindheit ist lange her, und doch haben sich mir die Bilder und Erfahrungen eingeprägt. Es sind Bilder vom Gegensatz zwischen Licht und Dunkel. Am Beginn des Gottesdienstes steht das Osterfeuer, es brennt im Freien, an ihm wird die Osterkerze entzündet. Und dann wird die Osterkerze hineingetragen in den völlig dunklen Raum, und von der großen Kerze wird das Licht weitergegeben an hunderte kleine Kerzen, die die Menschen in den Händen halten – und so breitet sich das Licht allmählich aus und erleuchtet am Ende hell den ganzen Raum. Eine großartige Erfahrung, die viele auch in der letzten Nacht wieder gemacht haben, zum Beispiel auch im Mainzer Dom. Ein kleines Licht verändert alles, das kleine Licht besiegt das größte Dunkel. Jedes Jahr bewegt mich diese Erfahrung, wie sehr ein kleines Licht einen dunklen Raum verwandelt.
Damit steht der Ostergottesdienst für die große christliche Hoffnung und macht sie sinnenfällig. In die vielen Dunkelheiten dieser Welt und des menschlichen Lebens leuchtet ein Licht der Hoffnung, das uns Menschen von Gott geschenkt ist, so mein Glaube. Licht und Dunkelheit spielen in vielen Religionen eine Rolle, so auch in der christlichen Verkündigung. Das Dunkle steht für eine bestimmte Lebenserfahrung. Im Dunklen haben viele Menschen Angst. Wenn ein Kind einsam in dunkler Nacht durch den Wald gehen muss, fürchtet es sich. Da kann man noch so überzeugend erklären, dass da niemand ist und nichts ist, vor dem man sich fürchten müsste. Und wir müssen gar nicht in den Wald gehen: Viele Kinder schlafen ungern im völligen Dunkel und bestehen darauf, dass die Tür einen Spaltbreit offen bleibt. Im Augenblick, wo das Kind allein ist im Dunklen, kommt eine Urangst des Menschen auf. Eine Angst nicht vor jemandem, sondern vor etwas Unbestimmten.
Und diese Angst vor dem Unbestimmten ist besonders schlimm. Die Furcht vor etwas Bestimmtem ist dagegen beinahe harmlos. Wenn jemand etwa vor einem bissigen Hund Angst hat, kann man die Sache klären, indem man den Hund an die Kette nimmt. Das Kind, der Mensch im Dunklen, hat eine nicht näher zu beschreibende Angst vor etwas, das er nicht greifen kann. Darin zeigt sich wohl eine Urangst des Menschen, die Furcht vor der Einsamkeit, vor der Unheimlichkeit, dass der Mensch nur sich selbst ausgesetzt ist.
Es gab Lebenssituationen, in denen ich etwas von einer solchen Angst verspürt habe: Die Furcht vor etwas Unheimlichen, das nicht näher zu bestimmen ist. Als Kind war ich nicht zu bewegen, in den Keller unseres Hauses zu gehen. Rational erklärbar war das nicht, es war tatsächlich so etwas wie die Angst, ganz einsam irgendetwas ausgesetzt zu sein, das ich nicht fassen konnte. Wie kann solche Furcht überwunden werden? Ein Kind verliert seine Angst in dem Augenblick, in dem die Hand eines liebenden Menschen da ist, der es an die Hand nimmt; sobald eine bekannte Stimme da ist, die mit ihm redet; da, wo der Mensch die Gegenwart eines Menschen erfährt, dem er ganz vertrauen kann. Dann verliert das Dunkel seinen Schrecken. Die eigentliche Furcht des Menschen, ausgeliefert zu sein, einsam zu sein, kann nur durch die Gegenwart eines liebenden Menschen überwunden werden.
Es gibt aber auch eine Nacht, in die scheinbar keine Hand und keine Stimme mehr hineinreicht. Es gibt eine Tür, durch die jeder Mensch einsam schreiten muss. Das ist der Tod, den jeder Mensch erleiden wird. Alle Furcht dieser Welt ist vielleicht im letzten die Urangst vor dieser letzten Tür des Todes, wo nichts und niemand zu sein scheint.
Musik 1: Johann Sebastian Bach, Sinfonia zur Kantate „Christ lag in Todes Banden“ (CD: Johann Sebastian Bach, Luther-Kantaten, Chorus Musicus Köln / Das neue Orchester / Christoph Spering, Track 7, 1:13).
Es gibt im christlichen Glaubensbekenntnis einen merkwürdigen Satz: Jesus ist hinabgestiegen in das Reich des Todes. Am Karfreitag hören wir den Ruf Jesu am Kreuz aus dem Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“. Das ist die Erfahrung des Todes, wo niemand mehr im Dunkel an meiner Seite ist, keine Stimme, keine liebende Hand, die trägt und birgt. Christus aber geht in die tiefste Nacht der Einsamkeit, er geht dorthin, wohin niemand mitgeht, wo der Mensch immer einsam geblieben wäre, dorthin, wo es keine Stimme gab, keine Hand. Jesus erleidet das Dunkel und er ist bei jedem, der dieses Dunkel erleidet. Und damit ist der Tod überwunden. Er nimmt der Einsamkeit und dem Tod den Stachel, den Schrecken.
Das ist die Nacht, die Christen mit dem Symbol von Licht und Dunkelheit feiern. Es gibt keine Einsamkeit mehr, keinen Tod, kein Dunkel, in dem mich nicht seine Hand hält, wo mich nicht seine liebende Stimme erreichen würde. Seitdem Jesus den Tod durchschritten hat, wohnt im Tod das Leben, im Dunkel das Licht. Es gibt die Hand, die Stimme, die uns in der Einsamkeit, im tiefsten Dunkel begegnet. Seine Gegenwart wahrzunehmen, ist eine lebenslange Aufgabe. Wenn ich Jesus kenne, ihn, der mich so unendlich liebt, weiß ich, wer im Dunkel meiner Tage auf mich zukommt. Und dann verliert das Dunkel seinen Schrecken. Der Gottesdienst in der Osternacht feiert seine Gegenwart im Dunkel, auch in der tiefsten Nacht unseres Lebens. Ich hoffe für mich und für alle Menschen, dass sie ähnlich wie das Kind im Dunkel seine Hand und seine Stimme erfahren werden. Dann kann ich ohne Angst leben. Heute gehe ich in den Keller ohne Angst, und das ist durchaus symbolisch gemeint. Wenn ich Ostern feiere, ist meine Urangst vor dem Dunkel weg. Er ist immer da, er hält mich immer, und immer wieder werde ich seine Stimme hören. Das ist Ostern, das ist die Erfahrung dieser Nacht. Das Licht leuchtet in der Dunkelheit.
Musik 2: Frank Martin, Mon Dieu, Mon Dieu, aus: In terra pax (CD : Frank Martin, In terra pax / The Four elements, Matthias Bamert, Brighton Festival Chorus, The London Philharmonic, Track 6, 1:34).
Das Licht hat für mich einen Namen. Es ist Jesus, der gestorben ist, und von dem ich glaube: Er ist von den Toten auferstanden. Er selbst hat sich einmal als das „Licht der Welt“ bezeichnet (Joh 8,12). Wenn ich die Evangelien lese, die von seinem Leben erzählen, begegnet mir ein Mensch, in dem es kein Dunkel, keine Lüge, keine Schlechtigkeit gibt. In seinen Begegnungen mit den Menschen strahlt ein Licht ins Dunkel. Kranke erfahren, dass Gott ihr Heil will, Sündern wird Vergebung geschenkt, er redet Menschen ins Gewissen. An einer Stelle im Johannesevangelium heißt es, dass Jesus einen Blick dafür hatte, genau zu erkennen, was im Menschen ist, was der einzelne Mensch braucht (Joh 2,24). Die Begegnung mit einem derartigen Menschen war für viele damals eine Erfahrung der Befreiung und der Heilung. Andere haben ihn abgelehnt und am Ende konnten sie sein Licht nicht mehr ertragen. Sie bringen ihn um, er stirbt am Kreuz. Die Bibel erzählt: Noch am Kreuz hat er anderen vergeben und sich um die Zukunft anderer Menschen gesorgt. Jesus – ein Mensch, der Licht gegeben hat, der selbst das Licht gewesen ist.
Kurz nach seinem Tod machen seine Freundinnen und Freunde eine unglaubliche Erfahrung. Sie begegnen ihm. Sie sind keine leichtgläubigen Menschen. Er begegnet ihnen, und sie erkennen ihn nicht. Sie können es nicht glauben, es dauert, bis der Glaube ihr Herz erreicht hat. Er lebt, und es ist eine völlig neue Form des Lebens, die sich jeder Vorstellung entzieht. Nach und nach verdichtet sich der Glaube daran, dass der Tod ihn nicht besiegt hat, dass seine Liebe stärker als der Tod ist, dass er lebt. Für seine Jüngerinnen und Jünger bedeutet dies, dass er bei ihnen bleibt, auch in ihrem Dunkel, auch in ihrem Tod. Er bleibt das Licht, in diesem Leben und über dieses Leben hinaus. Mit diesem Glauben ist die Kirche geboren, die Gemeinschaft derer, die aus dieser Hoffnung heraus leben.
Ich persönlich will ohne diesen Glauben und diese Hoffnung nicht leben. Sie haben mich getragen an vielen dunklen Tagen meines Lebens. Jesus ist das Licht im Dunkel: Diese Erfahrung besingen viele Osterlieder, die mir ans Herz gewachsen sind: „Verklärt ist alles Leid der Welt, des Todes Dunkel ist erhellt“ (GL 329,2), heißt es. In einem anderen Lied wird der auferstandene Christus als vom Licht durchdrungen beschrieben: „die Seel durchstrahlt ihn licht und rein, wie tausendfacher Sonnenschein“ (GL 331,2).
Musik 3: Huub Oosterhuis, Licht, das uns anstößt früh am Morgen (CD: Huub Oosterhuis, Atem meiner Lieder, Schola der Kleinen Kirche Osnabrück u.a., CD 4, Track 18, bis ca. 2:40).
Die Freundinnen und Freunde Jesu gehen mit dieser Botschaft der Hoffnung und des Lichtes in die Welt. Sie beschreiben sich selbst als „Kinder des Lichts“ (Eph 5,8). Damals haben die meisten Menschen, die Christen wurden, eine bewusste Glaubensentscheidung getroffen. Sie bereiteten sich lange auf das Christwerden vor, am Ende stand die Taufe. Sie nannten die Taufe „Erleuchtung“, sie erlebten sie als eine starke Erfahrung des Eintauchens in das Licht, das Christus ist. Er selbst berührt sie, damit beginnt das ewige Leben bereits jetzt. Das Dunkel ihres Lebens ist besiegt.
Erleuchtung meint bei den frühen Christen der biblischen Zeit nicht den Ausstieg aus der Wirklichkeit dieser dunklen Welt. Ganz im Gegenteil: Sie spürten die Aufgabe: Wie Jesus wollen sie ihre Erfahrung von Licht und Liebe in die Welt tragen und damit die Welt verändern. Sie sind von seinem Licht berührt worden, und diese Erfahrung müssen sie weitergeben. Wie das konkret werden muss, beschreibt der Epheserbrief: „Lebt als Kinder des Lichts! Denn das Licht bringt lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit hervor. Prüft, was dem Herrn gefällt, und habt nichts gemein mit den Werken der Finsternis, die keine Frucht bringen, deckt sie vielmehr auf! (…) Alles, was aufgedeckt ist, wird vom Licht erleuchtet. Denn alles Erleuchtete ist Licht. Deshalb heißt es: Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten und Christus wird dein Licht sein.“ (Eph 5,8-14). Die großen Worte werden im Alltag konkret: Keine Lüge, sondern Wahrheit, keine Unbarmherzigkeit, sondern Güte, schließlich das Bemühen um Gerechtigkeit und Offenheit. Die Werke der Finsternis gehören ins Licht, kein Schönreden, keine Vertuschung, keine Geheimniskrämerei. Leben im Licht, Leben als Kinder des Lichts, ist zu allen Zeiten eine aktuelle Herausforderung. In manchen Texten des Christentums wird daran erinnert: Christus ist das Licht! Nicht die Kirche und nicht der Mensch! In einem schönen Bild erklären frühchristliche Autoren das Verhältnis zwischen Jesus und den Menschen bzw. der Kirche so: Er ist die Sonne, wir sind der Mond. Menschen strahlen nur seinen Glanz wieder, geben sein Licht weiter. Menschen aber können nie das Licht sein, sind nicht der Erlöser. Sollten Menschen einen solchen Anspruch vertreten, ist Vorsicht geboten.
Musik 4: Heinrich Rohr, Wach auf, der du schläfst (CD: „Singt Gott den neuen Lobgesang“, Lieder aus dem Mainzer Eigenteil des neuen Gotteslob, CD 1, Track 1, bis ca. 1:02).
In der Feier der Osternacht zieht die Gemeinde mit einem kleinen Licht in die dunkle Kirche. Bereits das winzige Licht der Kerze verwandelt einen ganzen Raum. Ein Spruch sagt: „Es ist besser, ein kleines Licht zu entzünden, als über die große Dunkelheit zu klagen". Dies ist kein biblischer Satz, aber er passt zu Ostern. Unsere Welt hat viele wunderbare Seiten, aber es gibt auch die Erfahrung der Dunkelheit. Manchmal werde ich mutlos. Was kann ich schon verändern? Die Erfahrung der Osternacht mit dem kleinen Licht lässt mich nachdenklich werden. Papst Franziskus hat diese Frage in seiner Umweltenzyklika „Laudato si“ aufgegriffen. Er ermutigt zu kleinen Schritten, die viel bewirken. Das gilt für die Umwelt und für viele Themen des Zusammenlebens. Er nimmt wahr, dass viele Möglichkeiten in „alltäglichen Gesten“ bestehen (LS 230), die die „Logik der Gewalt, der Ausnutzung, des Egoismus durchbrechen.“ Der Papst macht Mut zu einer „Liebe voller kleiner Gesten gegenseitiger Achtsamkeit“ (LS 231), und er ist davon überzeugt, dass diese kleinen Dinge vieles verändern: „Man soll nicht meinen, dass diese Bemühungen die Welt nicht verändern“ (LS 212). Alles Gute, das getan wird, breitet sich aus und verändert die Welt. Auch dafür steht das Licht der Kerze in der Nacht. Bis heute berührt mich der Gottesdienst in der Osternacht, weil er in dem Bild des Lichts, in der Erfahrung, wie ein Licht die Dunkelheit verwandelt, meinen ganzen Glauben so schlicht ausdrückt. Ich muss keine Angst haben vor dem großen Dunkel, weil das Licht leuchtet und ich als Kind des Lichtes leben darf.
Musik 5: Johann Sebastian Bach, „Preis und Dank“ / Schlusschoral aus dem Osteroratorium (CD: J.S. Bach, Osteroratorium / Magnificat, Ton Koopman, The Amsterdam Baroque Orchestra & Choir, Track 11, 2:15).