Unser Gnadenbild stammt wohl aus dem Jahr 1620, seit Jahrhunderten beten hier die Menschen um ihre Fürbitte. Offenbar fühlen sich die Menschen von dieser Frau und Mutter verstanden.
Denn sie kennt die Mühsal des Lebens „in Armut und Not", wie wir es in einem Marienlied singen (GL 521,3). Maria mit dem toten Sohn auf dem Schoß nimmt sich die Welt zu Herzen. Sie lässt das Leid, mein Leid, meine Fragen, meine Sorgen an sich heran. So wie Jesus selbst seinen Weg zu den Menschen geht, bei ihnen ist, ihre Sorgen teilt und sogar ihren Tod stirbt, so beugt sich Maria zu den Menschen, sie bleibt ihnen nahe. Damit ist unser Wallfahrtsbild ein Bild der Nähe, der Zuwendung. So wie Maria die Liebe ihres Sohnes zeigt, so sind wir gerufen, dies zu tun, uns die Sorgen und die Nöte der Welt zu Herzen zu nehmen. Als Bischof Ketteler vor 150 Jahren hier die Arbeiter versammelte, zeigte er, dass es der Kirche genau darum geht: sie will sich die Sorgen und die Anliegen der Menschen, besonders der Armen und Bedrängten aller Art (GS 1) zu Herzen nehmen. Heute gibt es viele Themen, die uns bewegen. In unserer Region sind das Themen der Wohnungsnot von Menschen, so wie es das Jahresthema der Caritas aufgreift. Es ist die Frage der Armut und der Armutsgefährdung: Alleinerziehende Mütter und Väter, geschiedene Menschen, Menschen im Alter, Kinderreiche gelten als armutsgefährdet in unserer reichen Gesellschaft. Armut vererbt sich. Kinder aus armen Verhältnissen nehmen wenige Chancen zum Aufstieg und zur gesellschaftlichen Teilhabe mit ins Leben. Armut ist für viele Menschen schambesetzt, sie ziehen sich zurück, verlieren an gesellschaftlichen Kontakten und an Menschen, die sie tragen und mitgehen. Sie haben keinen Anteil an gesellschaftlichen Prozessen. Bischof Ketteler sagte am Ende seines Lebens einen bewegenden Satz: „Ich habe mein ganzes Leben dem Dienste des armen Volkes gewidmet, und je mehr ich es kennengelernt, desto mehr habe ich es lieben gelernt." Als sein Motto ist bekannt, dass er nach seiner Priesterweihe „kein anderes Interesse mehr haben (sollte) als das Seelenheil der Menschen und ihre Not." Sich die Not zu Herzen nehmen, sich die Menschen zu Herzen nehmen – das war das Programm dieses großen Bischofs. Es ist sicher kein Zufall, dass Bischof Ketteler 1868 mit dem Neubau der Kapelle die Wallfahrt zu diesem Gnadenbild wiederbelebte. Wer hierhin kommt, wird hoffentlich im Herzen verändert. Nicht nur, dass Maria für den hier betenden Menschen zur Wegbegleiterin, zur Seelsorgerin und Fürsprecherin wird. In ihrem Sohn hält sie uns das Leid ihres Sohnes vor, sie möchte uns zu Menschen machen, die neu beginnen, sich das Leid anderer zu Herzen zu nehmen.
Dass jemand sagt, ich habe die armen Menschen lieben gelernt, ist nicht selbstverständlich. Die Begegnung mit ihnen ist ja oft nicht romantisch oder lieblich, in den Innenstädten begegne ich ihnen in vielfacher Weise. Die Armen stehen im Weg, sie sind unangenehm, auch in der christlichen Gemeinde weicht man ihnen oft aus. Hier gibt es wohl kaum etwas zu beschönigen. Der Arme ist keineswegs der bessere Mensch. Er ist nicht demütig, und wenn er es ist, dann ist es vielleicht das Ergebnis jahrelanger Erniedrigung oder zweckmäßiges Schauspiel. Er erfindet Geschichten, um seine Situation zu kommunizieren, die jenseits der Wahrheit liegen. Seine Gegenwart überfordert auch den, der helfen will. Der Arme in unseren Städten ist oft ungepflegt, man berührt ihn nicht gerne. Wenn man seine Wünsche nicht erfüllt, kann er ausfallend oder gewalttätig werden. Bei seinem Anblick rührt sich das schlechte Gewissen, und man kann nicht allen helfen. Armut hat viele abstoßende Facetten: Hunger, Geldmangel, Krankheit, Sucht, Mangel an Bildung, Obdachlosigkeit und vieles andere mehr. Wer arm ist, hat nur selten eine Hoffnungsperspektive.
Hier bei der Wallfahrt wird uns gesagt: „Wenn du dir diese Menschen zu Herzen nimmst, kannst du nicht an ihnen vorbeisehen. Du kannst sie nicht jemand anderem überlassen, sie begegnen dir." Und: „Werde aufmerksam für die Menschen, die sich zurückgezogen haben und in ihrer Armut allein bleiben."
Die Pietà der Liebfrauenheide lehrt uns einen neuen Blick auf den Menschen, der arm ist. Papst Franziskus formuliert es sehr schön: „Unser Einsatz besteht nicht ausschließlich in Taten oder in Förderungs- und Hilfsprogrammen; was der Heilige Geist in Gang setzt, ist nicht ein übertriebener Aktivismus, sondern vor allem eine aufmerksame Zuwendung zum anderen, indem man ihn » als eines Wesens mit sich selbst betrachtet. Diese liebevolle Zuwendung ist der Anfang einer wahren Sorge um seine Person, und von dieser Basis aus bemühe ich mich dann wirklich um sein Wohl. Das schließt ein, den Armen in seinem besonderen Wert zu schätzen, mit seiner Wesensart, mit seiner Kultur und mit seiner Art, den Glauben zu leben. Die echte Liebe ist immer kontemplativ, sie erlaubt uns, dem anderen nicht aus Not oder aus Eitelkeit zu dienen, sondern weil es schön ist, jenseits des Scheins." (EG 199)
Sie sind nicht nur die Empfangenden, sie geben mir etwas zurück. Auch das thematisiert der Papst: Wir lassen uns von ihnen evangelisieren, d.h. in der Begegnung mit den Menschen in Armut und Not erkennen wir, was es heißt, Christus zu folgen, indem wir mit ihm den Weg des Dienens und des weiten Herzens für andere gehen lernen. Wir verehren hier Maria, die sich die Not der Menschen zu Herzen nimmt, weil sie mit Christus den Weg der Liebe mitgegangen ist bis zum Letzten. Sie steht für ein Christsein mit Herz, mit einem verwundbaren Herzen, das sich berühren und verändern lässt. Während wir manchmal sagen „Du darfst dir nicht alles so zu Herzen nehmen", begegnen wir hier Maria, die davor nicht zurückschreckt. Wir müssen uns diese Welt und die Menschen zu Herzen nehmen. Dann können wir diese Welt und die Menschen annehmen, sie lieben lernen und die Welt verwandeln.
Bischof Peter Kohlgraf
Es gilt das gesprochene Wort.