Für unsere Kinder wäre es eine herbe Enttäuschung, würden wir den Heiligen in den Martinszügen seines Pferdes berauben. Als Vorbild für uns als Kirche steht es uns jedoch gut an, vom hohen Ross herunter zu steigen. Eine Kirche auf dem stolzen Ross reitend, sich zum Menschen herabneigend: wir ahnen, dass dies kein heilvolles Bild für uns als Kirche sein kann. Schon gar nicht als Kirche auf dem hohen Ross sitzend. Eine Kirche auf dem hohen Ross sitzend schaut auf den Menschen herab. Sie verurteilt, ohne sich dem einzelnen Menschen und seiner Situation zuzuwenden, wenn sie Gutes tut, tut sie dies möglicherweise mit dem Gestus der Herablassung. Nicht wenige haben die Kirche und ihre Vertreter so erlebt und erzählen von derartigen Erfahrungen. Es ist wohl kein Zufall, dass Jesus selbst zu Fuß geht, und die einzige Szene, die von einem Ritt erzählt, der Einzug in Jerusalem ausgerechnet auf einem Esel stattfindet, was ja eine provozierende Infragestellung der Vorstellungen über einen mächtigen und politischen Messias gewesen ist. Der Erlöser selbst reitet auf einem Esel, Symbol der Friedfertigkeit und der Demut. Oder er geht eben zu Fuß. Die vielen Begegnungen mit den Menschen auf den Straßen der Städte und Dörfer waren nur so möglich, dass Jesus sie anschauen kann und sie ihn, dass er ansprechbar ist und er mit ihnen ins Gespräch kommt.
Meine große Sorge ist nicht nur die, dass wir von manchen Menschen immer noch als eine herablassende, belehrende und verurteilende Kirche gesehen werden. Vielmehr ist meine Sorge, dass auch wir einen Teil dazu beitragen, dass Begegnungen zwischen Menschen, dass Begegnungen zwischen Gott und Mensch immer seltener werden, weil wir weniger werden, weil wir mehr verwalten müssen als begegnen können, weil wir teilweise – auch von außen gezwungen – immer mehr Bürokratie werden, dass Kirche zur Behörde wird, und im schlimmsten Fall Sakramente und Menschen verwaltet. Martin erinnert uns daran, auf die Straßen zu gehen und bei den Menschen zu bleiben. Kirche muss in den vielen Feldern Begegnungsort zwischen Menschen und zwischen Gott und Mensch bleiben. Tatsächlich ist in der Lebensbeschreibung des heiligen Martin nicht von einem Reittier die Rede und die früheren Martinsbilder zeigen den Heiligen ohne Pferd. Wer zu Fuß geht, dem wird eine ganz andere Form von Begegnung möglich, eine Begegnung, die den Menschen sieht, die diakonisch, dienend und menschenfreundlich ist, die dem Anderen nicht vermittelt, dass ich mich herunterbeuge, dass er vielmehr mein Partner ist, dass ich ihn verstehen lernen will.
Was bedeutet dies für kirchliche Vollzüge? Fangen wir mit der Verkündigung an. Wir haben eine großartige Botschaft, das Evangelium von der Liebe Gottes zum Menschen, die sich in Jesus Christus geoffenbart hat. Er bleibt in seiner Kirche lebendig. Eine diakonische Verkündigung bringt die Fragen und Themen der Menschen mit dem Evangelium ins Gespräch. Dazu muss der Verkündiger, sei es auf der Kanzel, in der Schulklasse, in der Katechese oder wo auch immer ein wirklicher Menschenfreund und Menschenkenner werden und sein. Wer in der Nachfolge Jesu unterwegs ist, muss Menschen gern haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass in einer solchen Haltung auch die Forderungen des Evangeliums, die kirchlichen Ideale, die Gebote als Orientierungen und Wegweiser zum Leben erfahren werden können. Wenn ich aber verurteile, auch vor-verurteile, wenn ich bestimmte Menschen nur unter dem Verdikt der Sünde oder des Sünder-Seins sehe, sitze ich schon wieder auf dem hohen Ross und werde kaum als Werbeträger für die Frohe Botschaft unterwegs sein können. Mit Martin vom Ross heruntersteigen, mit Jesus selbst zu Fuß unterwegs sein: mir scheint dies eine hilfreiche kritische Anfrage an unsere Verkündigungsformen und –inhalte zu sein.
Auch die Liturgie, unser Beten und unser Gottesdienst tun gut daran, Begegnung zu ermöglichen und nicht nur Formeln oder Sakramente gültig zu verwalten. Begegnung soll ermöglicht werden mit der großen Welt Gottes, in die Menschen eintauchen können. Gottesdienst heißt ja in erster Linie, Gott heilsam am Menschen handeln zu lassen. Gott dient dem Menschen. Wir machen nicht Gottesdienst, wir treten hinein in Gottes Licht, in seine Liebe, er spricht, er schenkt uns seine Nähe in Christus, er macht uns groß und heil. Wir sollten uns um eine gute Qualität der Liturgie und des Gebets bemühen, wo diese Heiligkeit, diese andere lichtvolle Welt erfahren werden kann. Es gibt eine „Ars celebrandi“ – also eine Art, den Gottesdienst zu leiten, dass sich der Zelebrant als Hilfe versteht, Gott Raum geben zu können, und sich nicht selbst zum Zentrum des Geschehens macht. Liturgie und christliches Gebet geben immer auch dem anderen Menschen Raum. Wenn wir immer wieder auch für andere beten, ist das hoffentlich keine leere Formel. Gute Fürbitte zu halten heißt ja auch, die Themen und die Menschen wahrzunehmen und ihnen eine Stimme im Gebet zu geben. Auch in der Liturgie, die Gott und dem Menschen Raum gibt, steige ich vom Ross herab und mache Gott und den anderen groß.
Die Caritas, die praktizierte Nächstenliebe ist, sind wir einmal vom Ross gestiegen, keine herablassende Barmherzigkeitsgeste mehr. Ein Pfarrer hat in einer Kirche in einem Kindergottesdienst einmal eine große Schatztruhe präsentiert. Und er hat dann die Gottesdienstteilnehmer gefragt, was da wohl drin sei. Manche Antwort wurde gegeben. Schließlich lüftete er das Rätsel. Er hatte ein Kind darin versteckt. Der Mensch ist der eigentliche Schatz, die eigentliche Ressource der Kirche. Besonders auch der kleine und schwache Mensch. Daran müssen wir uns als Kirche, besonders auch als Priester und Bischof, in dieser Zeit schmerzlich erinnern lassen. Um den Kleinen nicht zu übersehen, muss man wohl vom Ross herabsteigen und beginnen, auf den Straßen zu Fuß zu gehen, dort, wo diese Menschen sind. Viele Menschen tun dies, Gott sei Dank.
Möge es uns mit Gottes Hilfe gelingen, als Kirche auf den Straßen präsent zu sein, da, wo das Leben spielt. Nicht auf dem hohen Ross, zu Fuß, in den Spuren Jesu.