Predigt von Bischof Peter Kohlgraf im Gottesdienst zum Jahresschluss 2020 Dom zu Mainz, 31.12.2020, 17.00 Uhr
„Meine Zeit steht in deinen Händen. Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in dir.
Du gibst Geborgenheit, du kannst alles wenden. Gib mir ein festes Herz, mach es fest in dir.“
(Peter Strauch)
Viele von uns werden dieses Lied kennen, das auch in unseren Gottesdiensten gerne gesungen wird. Es läge nahe, in der diesjährigen Silvesterpredigt viel Trübsal zu verbreiten, denn natürlich war es ein schwieriges Jahr. Für manchen war es existenzbedrohend, wegen Krankheit, materieller oder auch psychischer Folgen.
Ich verfolge mit Aufmerksamkeit die weiteren Schritte der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den Diözesen Deutschlands. Alle diese Themen dürfen nicht mit einem religiösen Zuckerguss allzu schnell schöngeredet werden. Auch hüte ich mich davor, die Pandemie zu schnell zur Chance zu erklären. Wenigstens für mich darf ich sagen: Es war nicht immer so einfach, die Aussagen des Liedes zu verwirklichen und im Alltag zu glauben. Es gab mehr äußere Ruhe, aber damit war nicht immer die glaubende Herzensruhe verbunden, die sich der Geborgenheit in Gottes Händen gewiss ist. Gerne greife ich deshalb das Gebet auf: dass sich mein Herz auch in Zukunft immer mehr in Gott festmachen möge, vertrauend auf dessen verwandelnde Kraft und dessen Macht, alles zu wenden. Dennoch richtet sich der Blick zurück (und auch vorwärts) nicht allein auf die schwierigen Erfahrungen in der Pandemie, die aber doch fast alle Wahrnehmungen überlagert.
„Meine Zeit steht in deinen Händen. Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in dir.“
Ich richte dankbar meinen Blick auf viel Gutes und Kreatives in unserer Kirche, das in den vergangenen Monaten manchmal übersehen worden ist. Gerade in den Wochen des Advents und an Weihnachten gab es wunderbare Angebote. Ich erinnere an den musikalischen Adventskalender, die Weihnachtswohnzimmer, vielfältige Gottesdienstangebote, die sich nicht nur im Streamen der Eucharistiefeiern erschöpften. Damit sind nur wenige Beispiele genannt, die dankbar angenommen wurden und vielen Menschen Mut gemacht haben. Allen, die zu einer großen Gebetsgemeinschaft beigetragen haben und weiter beitragen, sage ich von Herzen meinen Dank. Denn sie haben Menschen geholfen, sich in diesen Monaten in Gott festzumachen, und ihre Zeit in Gott zu sehen. Daneben gab es soziale Angebote, die Menschen aller Altersgruppen für andere organisiert haben. Eine Reihe von Seelsorgerinnen und Seelsorgern hat sich zur Begleitung von Menschen bereit erklärt, die schwer an Covid-19 erkrankt sind. In den vergangenen Monaten haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Seelsorgeabteilung eine groß angelegte Umfrage zur Erfahrung in den Monaten der Pandemie durchgeführt. Die Auswertung wird noch wichtige Ergebnisse zutage fördern. Es zeigt sich ein buntes Bild. Es gab Enttäuschung über fehlende kirchliche Präsenz, aber auch Dankbarkeit für viel Engagement. Im digitalen Bereich müssen wir noch besser werden, aber das gilt wohl für unsere gesamte Gesellschaft. Es gab in den Gemeinden eine starke Konzentration auf die Gottesdienste, der soziale Bereich war dagegen schwach ausgebildet. Das sollten wir uns zur Aufgabe machen, denn es werden weitere Herausforderungen folgen. Menschen in Altenheimen und sozialen Einrichtungen bleiben oft abgeriegelt und allein. Dass seelische Gesundheit und geistliche Bedürfnisse neben der Sorge um die körperliche Gesundheit nicht völlig unwichtig sind, daran erlaube ich mir zu erinnern. Allen Menschen in sozialen und pflegenden Berufen sei ebenfalls ein großer Dank gesagt, ebenso denen, die sich hier ehrenamtlich engagiert haben. Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer haben hingebungsvoll gearbeitet. Auch als Bischof darf ich denen danken, die in den verschiedenen Berufen für unsere tägliche Versorgung gearbeitet haben. Ein dankbares Gebet will ich zudem denen schenken, die in politischer Verantwortung stehen. Es hat sich eines gezeigt und das wird hoffentlich über diese Krise hinaus als Haltung bleiben: Es geht nur in gegenseitiger Rücksichtnahme. Papst Franziskus nennt es „Liebe“. Tatsächlich lässt sich nur in dieser Haltung der Liebe, sei es im persönlichen Einsatz einzelner oder sei es im politischen Einsatz für andere eine Gesellschaft gestalten und leben.
„Ruhig sein in ihm“: Das bedeutet für mich zunehmend, genau dies als Grundhaltung einzuüben: mein persönliches Recht zurückstellen zu können für das Wohl eines anderen. Wir haben in diesem Sinne seltsame Debatten um die sogenannte „Maskenpflicht“ geführt. Wir haben auch vor Weihnachten teils hitzige Diskussionen um die Präsenzgottesdienste geführt. Präsenzgottesdienste sind teilweise mit guten Gründen abgesagt, teilweise in verantwortbarer Weise durchgeführt worden. Vielleicht ist manchem aufgefallen: Wir haben an ihnen festgehalten gerade nicht unter dem Hinweis auf das im Grundgesetz verankerte Recht auf freie Religionsausübung. Vielmehr haben wir mit den spirituellen Bedürfnissen vieler Menschen argumentiert, denen die Gottesdienste Mut schenken und in großer Vorsicht eine Gemeinschaft ermöglichen, die sie ansonsten derzeit nicht erleben. Wenn es nur darum gegangen wäre, ein Recht durchzusetzen ohne Rücksicht auf Leib und Leben, wäre es keine gute Entscheidung gewesen. Das gilt es auch in Zukunft immer wieder abzuwägen. Es waren für mich seltsame Erfahrungen: Gab es an Ostern massive Proteste wegen der Absage öffentlicher Gottesdienste, kündigen mir jetzt Menschen ihren Kirchenaustritt an, weil wir Gottesdienste gefeiert haben. Wenn wir um die Herzensruhe in Gott beten, dann ist diese uns allen auch in derartigen Debatten zu wünschen. Es täte allen gut, den Dampf herauszunehmen und die Bereitschaft einzubringen, kritisch zu sein, aber der eigenen Meinung die Unfehlbarkeit zu nehmen. Eine Sorge will ich nicht verschweigen: So wichtig ein vielfältiges digitales geistliches Angebot auch über die Zeit der Pandemie wichtig bleiben wird, so wenig dürfen wir uns der Eucharistie entwöhnen. Kommentare zu den Weihnachtsgottesdiensten im Sinne von: „Ich kann zuhause genauso gut beten“, mögen immer mal wieder stimmen, und in diesen Zeiten für viele ganz sicher. Als Dauerzustand auf die Eucharistie zu verzichten, geht jedoch an den Kern des Katholischen.
„Meine Zeit steht in deinen Händen. Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in dir.“
Die Ruhe des Herzens brauchen wir auch in vielen Bereichen unseres Bistums. Wir gehen weiter auf dem Pastoralen Weg. Ich werde nicht müde zu betonen: Es darf nicht nur um Strukturen gehen, sondern auch um die Frage des kirchlichen Auftrags in dieser Zeit. Und die sich verändernden Strukturen müssen diesem Ziel dienen. „Meine Zeit steht in deinen Händen“ – es ist wichtig, uns daran zu erinnern, dass jedes Jahr ein „Jahr des Herrn“ ist, seine Zeit, und wir gehen unter seinem Segen. Das gilt gerade auch in den Zeiten, in denen erste schmerzliche Entscheidungen im Bistum getroffen wurden. Sie sind auch Ausdruck einer schwindenden kirchlichen Präsenz, die nicht vom Bischof oder der Bistumsleitung ausgehen. Sie sind Folge von Kirchenaustritten und anderen gesellschaftlichen Entwicklungen, die selbstverständlich auch die Kirche und das Bistum nicht unberührt lassen. Schulen und Bildungseinrichtungen sowie auch soziale Einrichtungen abzugeben, wird nicht leichtfertig und einsam entschieden. Davor liegt ein jahrelanges Ringen, Abwägen und schließlich auch Entscheiden, das nicht immer in der Öffentlichkeit diskutiert werden kann, bevor es ernst wird. Ich bitte um das Vertrauen, dass auch künftige Entscheidungen nicht leichtfertig getroffen werden. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist für ihr Engagement zu danken, denn jede betroffene Einrichtung leistet hervorragende Arbeit. Am Ende zeichnen sich unsere Einrichtungen nicht durch das Etikett „katholische Trägerschaft“ aus, sondern hoffentlich durch den guten Geist der Menschen, die aus christlicher Motivation dort arbeiten. Das gilt auch für Einrichtungen in anderen Trägerschaften, in denen Menschen christliche Liebe verwirklichen. Auch unter sich verändernden Bedingungen bleiben unsere Jahre „seine“ Zeit.
Auch das Jahr 2021 wird ein „Jahr des Herrn“ sein. „Meine Zeit steht in deinen Händen. Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in dir.“
Es wird weiter Geduld und Gottvertrauen brauchen. Wie schnell sich Normalität entwickelt und wie die künftige Normalität aussehen wird, das sind offene Fragen. Ich bete um die Ruhe des Herzens, und ich bete darum, dass es uns als Kirche gelingen möge, gute Wegbegleiterin der Menschen zu bleiben. Denn die Ruhe, von der das Lied sind, meint nicht, die Hände in den Schoß zu legen. Auf den vielen Baustellen unserer Kirche gilt es, beherzt anzupacken. Das kann ich nicht allein. Daher mein Dank an alle Menschen, die sich im Seelsorgedienst, im Haupt- und Ehrenamt engagieren. Ich darf besonders einmal meine engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Menschen im Ordinariat auf den verschiedenen Ebenen erwähnen, an der Spitze den Generalvikar. Sie sind mehr als eine Behörde. Die Art, wie wir gemeinsam arbeiten, möge positiv ins Bistum ausstrahlen.
Möge Gott uns segnen, damit die Erfahrung immer tiefer gehen kann:
„Meine Zeit steht in deinen Händen.
Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in dir.
Du gibst Geborgenheit, du kannst alles wenden.
Gib mir ein festes Herz, mach es fest in dir.“