„Mitten im Leben sind wir mit dem Tod umfangen.“ So heißt es in einem Lied, das Martin Luther 1524 geschrieben hat. Es findet sich auch in unserem katholischen „Gotteslob“ (Nr. 503). Tatsächlich ist uns in einer Welt, die den Tod möglichst aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängen will, der Tod in der alltäglichen Wahrnehmung nahegerückt.
Zunächst haben die Kriege und Terroranschläge brutal gezeigt, dass das für viele Menschen eine alltägliche Realität ist. Gerade in Israel sind Menschen völlig unerwartet aus dem Leben gerissen worden. Besonders bedrücken uns die Berichte von Kindern und jungen Menschen, aber eine Katastrophe ist es für alle Betroffenen. In der Ukraine hört die Gewalt nicht auf. Ich blicke auch auf den persönlichen Bekannten- und Freundeskreis. In diesem Jahr musste ich mich von guten Freunden verabschieden. Im Laufe des Lebens trage ich immer mehr Verstorbene mit mir. Viele von Ihnen, die heute hier anwesend sind, könnten sicherlich etwas davon erzählen, wie der Tod mitten ins Leben eingebrochen ist. Der Tod tritt auf vielerlei Weise auf. Er kann die Krankheit sein, die alle Pläne zusammenstürzen lässt, der Verlust beruflicher Perspektiven, das Ende einer Beziehung, ein Konflikt, der alle Brücken zusammenbrechen lässt. Im Lukasevangelium findet sich eine Geschichte, die diese Erfahrung gut auf den Punkt bringt (Lk 12,16-20). Da erzählt Jesus von einem reichen Mann, der als Landwirt eine gute Ernte einfahren konnte. Nun will er sein Leben genießen. Doch er wird noch in dieser Nacht heimgerufen, alle seine Pläne sind dahin, seinen irdischen Besitz kann er nicht mitnehmen. Erschwerend kommt hinzu, dass er keine inneren Schätze hatte, auf die er sich nun verlassen könnte. Reich war sein Leben nicht. Jesus nennt ihn einen „Narren“. Für Jesus geht es darum, im Leben die wahren Schätze zu sammeln, sodass man leichter mit seiner Vergänglichkeit umzugehen lernt. Als Martin Luther das Lied schrieb, war die geistliche Übung des „Memento mori“ bekannt, des täglichen Gedenkens der Vergänglichkeit des Lebens. Das ist in unserer Zeit zwar fremd geworden, aber auch in unseren Kirchen finden wir den Sensenmann mit der Sanduhr. Die Lebenszeit läuft ab. Mitten im Leben sind wir mit dem Tod umfangen. Für Jesus selbst ist das der Hinweis auf die Notwendigkeit, immer wieder die richtigen Prioritäten zu setzen, wachsam und aufmerksam zu sein für das, was heute „dran“ ist. Die erste Strophe endet mit der dringenden Bitte, Christus möge uns nicht im Tod versinken und untergehen lassen. In einem Gespräch mit Jugendlichen fragte mich vor kurzem ein junger Mann: „Haben Sie Angst vor dem Tod“? Ich kann das gar nicht genau beantworten. Auch mir steht er manchmal vor Augen. Ich denke oft an einen alten Priester zurück, der in seinen letzten Tagen das Kreuz stundenlang festhielt und anschaute. Das war wohl seine Art zu beten, nicht zu versinken. Es war aber sicher auch die letzte Hoffnung, dass Christus ihn nicht im Wasser versinken lässt, sondern wie beim Seewandel herauszieht und ans rettende Ufer bringen wird. Für mich ist das die eigentliche Hoffnung meines Lebens. Das will ich sagen. Ich bete auch manchmal um die Gabe Gottes, in den schwierigen Situationen des Lebens nicht auf eine solche Weise in Zweifel an Gott zu geraten, dass nichts mehr trägt. Sicherheit gibt es nicht. Aber mit dem Lied glaube ich auch, dass dieser Glaube trägt und das schönste Geschenk ist, was mir im Leben gegeben ist. So betet auch das Lied: „Lass uns nicht entfallen von des rechten Glaubens Trost.“ (3. Str.)
„Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen“ - so will ich das Lied umschreiben. So richtig die eine Perspektive ist, so notwendig scheint mir auch diese. Das Lied nennt als den letzten Grund unserer Hoffnung die Barmherzigkeit des gekreuzigten und auferstandenen Christus, die Menschen nicht zerstören, sondern retten will. Die Barmherzigkeit, die rettenden Hände des Herrn greifen nicht erst in der letzten Stunde. Sie berühren uns schon jetzt, immer wieder. Stärkend, heilend und versöhnend in den Sakramenten, in seinem Wort, in manchen Gesprächen und Begegnungen, in hellen und dunklen Stunden. Mitten in diesem sterblichen Leben sind wir von einem größeren Leben umfangen.
Ich gehe gerne über Friedhöfe. Auch in den Ferien. Ich lese Namen und ahne Lebensgeschichten. Manchmal denke ich an die Millionen Menschen, die längst vergessen sind. In Gottes Hände sind sie eingeschrieben. Das ist unser Glaube, mein Glaube. An den Gräbern denke ich an die eigene Lebensgeschichte und ich versuche mich daran zu erinnern, dass ich mit den vielen Verstorbenen verbunden bin. Heute denken wir nicht nur an uns, unsere lieben Verwandten, Freundinnen und Freunde. Wir feiern unseren Glauben, dass alle in Gottes Gedächtnis sind und dass sie damit leben. Wir gehen vielleicht in Zeiten, in denen immer weniger Menschen hierzulande an Gott denken. Es bleibt die zentrale Aufgabe der Kirche, an ihn zu erinnern und die Frage an ihn wachzuhalten. Mich trägt der Glaube, auch wenn wir Menschen ihn vergessen sollten. Er bleibt der „Erste und der Letzte, der Lebendige“ (Offb 1,17f.), er vergisst uns Menschen nicht. In diesem Glauben treten wir heute an die Gräber unserer Verstorbenen, mit denen wir uns verbinden. Wir sollten auch die nicht vergessen, in deren Leben der Tod brutal eingebrochen ist. Beten wir immer in der Hoffnung, dass alle mitten im Tod vom Leben umfangen sind.