Nächstenliebe ist Gottesdienst, das macht Jesus uns vor

Abendmahl aus bunten Handabdrücken (c) Hans-Jörg Nisch | stock.adobe.com
Datum:
Do. 6. Apr. 2023
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Ich will heute den Vielen danken, die in der Liturgie und Verkündigung und auch in der Zuwendung zum Nächsten Gottes Zuwendung erfahrbar machen für andere, oft ohne große Öffentlichkeit und Dankbarkeit. In ihnen zeigt sich etwas von der Leidenschaft und Sehnsucht Jesu, auch wenn der Alltag oft mühsam sein kann. 

Mit großer Sehnsucht habe ich danach verlangt, vor meinem Leiden dieses Paschamahl mit euch zu essen.“ (Lk 22,15) Die Evangelien und Paulus in seinen Briefen setzen dann jeweils unterschiedliche Akzente, dieses Mahl zu deuten. Am Anfang aber steht die Sehnsucht Jesu, mit denen Mahl zu halten, die er liebt, die ihn lieben. Schaue ich in das „Lexikon für Theologie und Kirche“ (3. Auflage, 1993-2001), findet sich unter dem Stichwort „Sehnsucht“ ausschließlich die menschliche Eigenschaft, sich nach Gott auszustrecken und ihn zu suchen. Hier offenbart Jesus seine tiefe Sehnsucht, bei den Menschen zu sein und bei ihnen zu bleiben. Er bricht das Brot und reicht es ihnen, er teilt den Wein und sieht in der Frucht des Weinstocks den Hinweis auf den bleibenden Bund in seinem Blut, und er sagt die Hoffnung aus: Menschen aus allen Völkern und Nationen kommen einmal zusammen, um im Reich Gottes das große Festmahl der Versöhnung feiern zu können. Schließlich berichtet der Evangelist Johannes als einziger von der Fußwaschung. Das Johannesevangelium kennt keinen „Einsetzungsbericht“ des Abendmahls, da es bereits im sechsten Kapitel die drastische Brotrede überliefert hat. In dieser Brotrede macht Jesus vom Empfang seines Leibes in der Gestalt des Brotes das ewige Leben abhängig. Damals verließen ihn viele.

An diesem Abend will ich mich zunächst hineinversetzen in die tiefe Sehnsucht Jesu nach der Gemeinschaft mit seinen Jüngerinnen und Jüngern, ja mit „seinen“ Menschen. Im Wörterbuch findet man für das griechische Wort für „Sehnsucht“, auch die Bedeutungen „Leidenschaft“ und „Begierde“. Jemand, der so empfindet, brennt für jemanden, kann sich kaum zügeln. Mit einem derartigen inneren Feuer geht Jesus in das letzte Abendmahl. Angesichts seines Todes denkt er nicht an sich, sondern will seinen Freunden etwas mitgeben. Wir erleben Jesus hier nicht klagend. Vielmehr nimmt er das vorweg, was in den nächsten Tagen geschehen wird: seine Hingabe für die Menschen und das Versprechen seiner bleibenden Gegenwart in Brot und Wein. So wie das Brot aus vielen gemahlenen Körnern bereitet wird und Leben schenkt, so lässt sich Jesus zermahlen, um sich zur Speise zu geben. So wie der Wein aus vielen zerstoßenen Trauben bereitet wird, so schenkt er Leben und Freude in Fülle, indem er sein Leben hingibt.

Ich glaube: Die Sehnsucht Jesu an diesem einen Abend, seine Leidenschaft und Begierde beschränkt sich nicht auf diesen einen Abend. Jesus lädt seine Kirche ein, dies immer wieder zu vollziehen, zu seinem Gedächtnis. Gedächtnis ist nicht eine Erinnerung an Vergangenes, sondern macht jemanden gegenwärtig. Christus nimmt seinen Tod vorweg, aber er spricht auch von der Zukunft im Reich Gottes mit seinen Jüngerinnen und Jüngern. Wenn die Gemeinde zu seinem Gedächtnis Brot und Wein nimmt, hingibt und teilt, ist er selbst gegenwärtig. Sein Tod wird verkündet, seine Auferstehung gefeiert. Er selbst ist und bleibt der Einladende. Die christliche Gemeinde spielt nicht das Abendmahl nach, sondern Christus versammelt uns als Gastgeber um seinen Tisch. Er gibt sich hin, er nimmt uns mit in seine Hingabe und in seine Auferstehung. Wie damals sehnt er sich danach, mit uns dieses Mahl zu halten. Er empfindet dieselbe Leidenschaft, dieselbe Begierde. Weil er das Leben nicht für sich behalten will, sondern weitergeben. Weil er mit uns feiern will: dass sein Bund ewig währt, dass Gott seine Versprechen der Vergangenheit nie zurücknimmt, dass er treu bleibt, auch wenn die Menschen seine Leidenschaft und Sehnsucht nicht mit dem gleichen Feuer und der gleichen Begeisterung beantworten oder sogar schuldig werden und ihn verlassen.

In der Zeit der Corona-Pandemie gab es eine Karikatur auf der Grundlage der Abendmahlsdarstellung von Leonardo da Vinci. Anders als im Original da Vincis sitzen die zwölf Apostel nicht an einem Tisch mit Jesus, sondern sind auf einem Bildschirm auf digitalen Kacheln verbunden, wie aus der Not heraus nicht nur Konferenzen gestaltet wurden, sondern auch Gottesdienste gefeiert. Digitale Begegnungen haben einen Sinn, aber die Feier der Eucharistie lebt von der Präsenz. Ohne moralischen Zeigefinger will ich an die Sehnsucht Jesu erinnern: Er will mit uns Mahl halten, er will sein Leben in Brot und Wein weitergeben und uns als Auferstandener Speise sein zum ewigen Leben. In jeder Eucharistiefeier wird das letzte Abendmahl gegenwärtig, aber mehr noch: Jesu Hingabe in Tod und Kreuz und sein Sieg über den Tod, an dem er uns allen Anteil geben will.

In der Nacht nach dem letzten Abendmahl zeigen die Jünger: Sie haben den Ernst der Botschaft in den starken Zeichen von Brot und Wein nicht verstanden. Sie gehen mit Jesus in den Ölgarten und schlafen. Dies ist eine der ebenfalls bleibenden ernüchternden Erfahrungen Jesu über die Zeiten hinweg. Selbst der engste Kreis lässt Jesu Leidenschaft und Sehnsucht nicht existenziell an sich heran. Sie verschlafen seine Botschaft, seine Hingabe, sie sind nicht bereit oder fähig, in seine Haltung der Hingabe an andere hineinzufinden.

Der Evangelist Johannes berichtet von der Fußwaschung an den Jüngern. Wenn wir in dieser Liturgie Männern und Frauen die Füße waschen, zeigt dies: Wir spielen nicht einfach theatralisch das Letzte Abendmahl nach. Papst Franziskus hat den bis dahin geltenden Ritus an zwölf Männern im Jahr 2016 verändert. Es geht um einen Ritus, der alle Menschen in den Blick nimmt. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat einmal von der biblischen Botschaft als „Lebewort“ gesprochen. Es geht nicht um Erinnerung, sondern um die Vergegenwärtigung der Hingabe Jesu, die sich in der Fußwaschung zeigt. Auch sie ist eine Vorwegnahme von Tod und Hingabe Jesu. Es ist ein schönes Ritual, wenn der Bischof im Dom oder der Priester in der Gemeinde diesen Ritus vollzieht. Wichtiger aber scheint mir: Mit diesem Ritual wird an die vielen Menschen erinnert, die Tag für Tag aus einer gläubigen Haltung heraus Fußwaschung in vielen Formen vollziehen. Der Gründonnerstag ist somit nicht nur der Tag der Eucharistie und der Sakramente. Er ist nicht nur der Abend, der Leben, Sterben und Auferstehen Jesu zusammenfasst. Er ist auch der Abend, der die „Caritas“ zum „Lebewort“ erhebt. Nächstenliebe ist Gottesdienst, das macht Jesus uns vor. Ich will heute den Vielen danken, die in der Liturgie und Verkündigung und auch in der Zuwendung zum Nächsten Gottes Zuwendung erfahrbar machen für andere, oft ohne große Öffentlichkeit und Dankbarkeit. In ihnen zeigt sich etwas von der Leidenschaft und Sehnsucht Jesu, auch wenn der Alltag oft mühsam sein kann.

Wenn wir heute Gottesdienst feiern, eröffnen wir keine „Passionsfestspiele“, sondern tauchen ein in der Gegenwart Jesu, des Erlösers. Er sehnt sich nach uns, heute wie vor 2000 Jahren. Er will uns mit Leidenschaft begegnen. Möge etwas von seiner Leidenschaft und Sehnsucht unseren Verstand und unser Herz ergreifen. Und darüber hinaus: möge seine Leidenschaft zum Lebewort werden in der Liebe zu Gott und zum Nächsten.