„Nie wieder Krieg“

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Festgottesdienst 75 Jahre pax christi Deutschland, Katholische Propstei St. Trinitatis, Leipzig Sonntag, 21. Mai 2023, 9.30 Uhr

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Datum:
So. 21. Mai 2023
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Vielleicht wird man sich in einigen Jahren über die Normalität wundern, mit der Gewalt gerechtfertigt wurde. Die Bergpredigt bleibt ein Stachel im Fleisch. Allerdings erlebe ich auch: Die Bibel bietet für viele Fragen, die heute anstehen, keine einfachen Lösungen bietet. Als pax christi sollten wir Debatten nicht scheuen, wir sollten Argumente hören und mehr bieten als einfache Lösungen für sehr komplexe Themen.

Es geht nicht um Kapitulation gegenüber der Gewalt, sondern um das Bemühen, ein friedliches Miteinander aktiv zu gestalten.

„Nie wieder Krieg“ – diese Haltung findet sich in vielen Botschaften der Päpste und der kirchlichen Lehrverkündigung der letzten Jahrzehnte. Pax christi schließt sich dem Satz aus ganzem Herzen an und hat dies in der Versöhnungs- und Friedensarbeit in seiner langen Geschichte mit Überzeugung getan.

Biblische Grundlage der Versöhnungstätigkeit waren immer auch die Bergpredigt und das Lebensbeispiel Jesu mit der Forderung und dem Beispiel der Feindesliebe, der Gewaltlosigkeit und dem Bewusstsein dafür, dass Gott seine Sonne scheinen lässt über alle, Gute und Böse. In diesen Tagen schauen wir dankbar auf 75 Jahre Engagement für den Frieden zurück. Christinnen und Christen haben das Friedensprojekt Europa gestaltet, auch pax christi hat seinen aktiven Anteil daran. Vor wenigen Jahren noch habe ich selbstverständlich über Europa als Friedensprojekt gepredigt, Kriege gab es zumindest nicht vor der eigenen Haustür und die friedensethischen Fragen waren für manchen Menschen auch in der Kirche eher theoretischer Natur. Pax christi hat jedoch immer wieder die vielen Kriegsereignisse weltweit in den Blick genommen und sich dazu positioniert, manchmal auch unter Inkaufnahme kontroverser Reaktionen. Das wird auch weiter unsere Aufgabe bleiben.

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat auch in pax christi manche Sicherheit in Frage gestellt, wir erleben dies in unserer Friedensbewegung und in den aktuellen öffentlichen Debatten. Solche Diskussionen holen unsere Beiträge aus der Theorie und der rein abstrakten Friedensethik heraus. Wie in allen gesellschaftlichen Fragen, sind auch in kirchlichen Debatten Neuorientierung und Vergewisserung notwendig, die sich an der Wirklichkeit messen. Der Krieg gegen die Ukraine hat auch in der pax christi Bewegung Kontroversen und Diskussionen ausgelöst. Manche halten an radikalpazifistischen Positionen fest, und fordern eine Kapitulation der Angegriffenen oder wenigstens Friedensverhandlungen, um weiteres Sterben zu vermeiden. Sie verstehen die Aussage Jesu, dem Gegner die andere Wange hinzuhalten, als die einzige Möglichkeit, den Krieg wirklich zu beenden. Andere haben sich damit abgefunden, dass Waffen zur Selbstverteidigung legitim seien, da es auch um die Verteidigung von Wehrlosen gehe und nicht nur um die eigene Haut, die es einzusetzen oder zu retten gelte. Aber natürlich steht die Frage im Raum, wo Waffen der Verteidigung dienen oder größeren Schaden anrichten als sie zu verhindern suchen. Auch wenn wir heute in den Kirchen um die Gestaltung eines gerechten Friedens ringen, sehen wir, dass plötzlich wieder Fragen des sogenannten „Gerechten Krieges“ im Raum stehen. Gibt es Waffen, die nur der Verteidigung dienen? Das ist schwer zu glauben, und es braucht weiter Menschen, die diese Frage stellen.

Jesus fordert in der Bergpredigt dazu auf, die Feinde zu lieben. Das sagt sich auf einem akademischen Podium leichter als in einem Ort, in dem Menschen massive Menschenrechtsverletzungen erleiden müssen: Tod, Vergewaltigung, Verschleppung von Kindern, brutale Gewalt ohne Sinn und Verstand. Ich meine: Zunächst ist es erst einmal Aufgabe von Christinnen und Christen, sich eindeutig auf die Seite der Opfer von Gewalt zu stellen und deren Perspektive einzunehmen. Jesus selbst stirbt einen gewaltsamen Tod und lernt dabei das, was der Hebräerbrief beschreibt: „Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört worden aufgrund seiner Gottesfurcht. Obwohl er der Sohn war, hat er durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden und wurde von Gott angeredet als Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks“ (Hebr 5, 7-10). Jesus steht ganz auf der Seite der Opfer von Gewalt und Vernichtung. Insofern kann auch die Bergpredigt nicht dazu genutzt werden, eine theologisch irgendwie geartete Augenhöhe zwischen Gewalttäter und Opfer herzustellen. Die Schuld der Täter muss genannt und geahndet werden, den Opfern muss nach allen Möglichkeiten Gerechtigkeit widerfahren.

Engagierte Friedensarbeiterinnen und –arbeiter erleben in diesen Tagen eine ausgeprägte Hilflosigkeit. Sie wollen Frieden, erleben aber kontroverse Positionen dazu, wie dieser erreicht werden kann. Selbstverständlich bleiben die Worte der Bergpredigt Jesu ein zentraler Text. Heute stelle ich dazu mehr Fragen als ich Antworten geben kann. Jesus fordert in der Bergpredigt: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“ (Mt 5,39). Das kann ich für mich persönlich entscheiden. Aber kann das eine Begründung dafür sein, zuzuschauen, wenn jemand anders angegriffen wird? Wenn ich erlebte, dass jemand Gewalt erleidet, müsste ich wohl dazwischen gehen. Insbesondere, wenn dies die eigene Familie betrifft, wird wohl selten das Zuschauen eine angemessene Reaktion sein. In einer ersten Aktion hilft vielleicht keine Ermahnung oder ein Appell, sondern ein konkreter Akt, der auch der Situation angemessen gewaltsam sein kann und eine Bedrohung beenden soll. Die Gewalt, die der Verteidigung dient, darf aber nicht zur Eskalation beitragen. In manchen aktuellen Forderungen ist wahrzunehmen, dass der Wunsch aufkommt, Unrecht auch durch Unrecht beantworten zu sollen. Da zeigt die Bergpredigt Jesu eine deutliche rote Karte. Wenn der Angreifer international geächtete Waffen verwendet und Menschenrechte in vielerlei Art verletzt, kann die Reaktion nicht auf dieser widerrechtlichen Stufe stattfinden. Unrecht kann nicht durch Unrecht gutgemacht werden.

In den Medien hochumstritten waren Friedensappelle, die im Wesentlich auf der Kapitulation der Angegriffenen beruhen. Ich meine, dass die Bergpredigt hier andere Akzente setzt. Jesus ruft ja keineswegs zur Kapitulation der Angegriffenen gegenüber dem Aggressor auf. Es geht vielmehr um eine aktive Überwindung der Gewaltspirale. Angegriffene sollen nicht in tatenloser Passivität verharren. Sie sollen den Angreifer durch ihr Verhalten „entwaffnen“. Die Frage ist: Gibt Jesus Anregungen für die Weltpolitik, oder entwickelt er eher eine Gemeindeethik? Sollten nicht die Christinnen und Christen in den Kirchen beginnen, dies umzusetzen? Und hier erleben wir auch verbale Eskalation. Wir werden auch in pax christi lernen müssen, unterschiedliche Positionen auszuhalten. Bevor wir zu Fragen des Verhaltens der Ukraine und anderen Kriegsherden Stellung nehmen, sollten wir als Friedensbewegung alles tun, um aktiv zu einer gewaltfreien Kommunikation in Kirche und Gesellschaft beizutragen. Es geht nicht um Kapitulation gegenüber der Gewalt, sondern um das Bemühen, ein friedliches Miteinander aktiv zu gestalten. Ich bin daher dankbar, dass pax christi nicht nur politisches Geschehen bewertet und kommentiert, sondern auch aktive Schritte zu Gewaltfreiheit in Wort und Tat hierzulande fördert. Darin sollten wir nicht nachlassen. Darin unterscheiden wir uns vielleicht deutlich von den Stellungnahmen, die in erster Linie eine Kapitulation vor der Gewalt einfordern und darin die Lösung sehen. So einfach geht es vielleicht auch nicht.

Papst Franziskus hat in den vergangenen Tagen deutliche Kritik einstecken müssen. In einer Begegnung mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj hat er eine weitgehend neutrale Rolle eingenommen. Zwar hat er sich wiederholt auf die Seite der angegriffenen Ukraine gestellt, hält sich aber Verhandlungsoptionen offen. Das machen ihm viele Medien deutlich zum Vorwurf. Zunächst einmal entspricht dies der vatikanischen Friedenspolitik und Diplomatie der letzten Jahrzehnte. Ich meine, auch der Papst unterscheidet deutlich zwischen Tätern und Opfern. Dennoch setzt er langfristig auf Verhandlungen und Diplomatie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich dahinter die fehlende Bereitschaft verbirgt, Verantwortung nicht übernehmen zu wollen oder Schuld klar zu benennen. Irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, an dem der Krieg beendet ist. Dann wird geredet werden müssen. Ich wünsche mir, dass dann der Heilige Stuhl eine für beide Seiten anerkannte Position wird einnehmen können. Im Moment erscheint die Reaktion eher blass und ein wenig hilflos. Was aber wird in Zukunft sein? Der Krieg hat durch die Positionierung des russisch-orthodoxen Patriarchen auch eine religiöse Dimension. Es wird ein Feindbild einer säkularen Gesellschaft aufgebaut und der Krieg dagegengesetzt. Im Sinne der Bergpredigt ist dies wirklich widersinnig. Wenn Papst Franziskus eher die diplomatischen Wege beschreitet, ist dies vielleicht der einzige Weg, religiöse Gegensätze zu überwinden und gegnerische Konfessionen an einen Tisch zu holen. Die säkulare Welt unterschätzt meines Erachtens diesen religiösen Aspekt des Russland-Ukraine-Konflikts und vieler anderer Kriegsherde in der Welt.

Die pax christi Bewegung erlebt eine starke Erschütterung. Das muss nicht nur schädlich sein. Gewissheiten müssen durchdacht und neu begründet werden. Die Bergpredigt Jesu bleibt ein zentraler Text. Pax christi muss dabei bei sich selbst und der eigenen Erneuerung beginnen. Die Gesprächskultur muss auch bei uns gewaltfrei bleiben, ohne Angriffe, Vorwürfe und Verurteilungen. Wir müssen weiter an gewaltfreien Kommunikationsformen und Konzepten arbeiten. Dabei mache ich Werbung für die pazifistischen Stimmen gerade in diesen Zeiten, wo man sich zunehmend an Gewaltrhetorik gewöhnt. Es braucht die „anderen“ Stimmen, wenn immer mehr über Waffen und Gewalt in einer starken Normalität gesprochen wird. Es braucht das Zuhören auf unterschiedliche Positionen. Es braucht weiter Menschen, die Fragezeichen und Stoppschilder setzen. Vielleicht wird man sich in einigen Jahren über die Normalität wundern, mit der Gewalt gerechtfertigt wurde. Die Bergpredigt bleibt ein Stachel im Fleisch. Allerdings erlebe ich auch: Die Bibel bietet für viele Fragen, die heute anstehen, keine einfachen Lösungen bietet. Als pax christi sollten wir Debatten nicht scheuen, wir sollten Argumente hören und mehr bieten als einfache Lösungen für sehr komplexe Themen.

Der endgültige Frieden ist eine endzeitliche biblische Hoffnung. Und dennoch sollten wir mutig notwendige Schritte anregen und gehen. Solche biblischen Visionen machen mir heute Mut. Gott kann Frieden schaffen, aber er braucht uns als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Er möge unsere Friedensarbeit begleiten und segnen.