Wir feiern den heiligen Martin hier in diesem Dom, der ihm geweiht ist, er ist der Patron unseres Bistums Mainz. Tatsächlich zeugen viele Martinspatronate von seiner großen Verehrung in unserer Region. Und diese Verehrung geht weit über das Bistum Mainz hinaus. Die gemeinsame Feier mit dem Bischof und Gläubigen aus dem Bistum Rottenburg-Stuttgart zeigt einen Ausschnitt aus einer gesamteuropäischen Bewegung, die Martin als Begleiter und Fürsprecher bis heute sieht.
Auf dem Gebiet des heutigen Ungarn geboren, verbringt er seine Kindheit in Oberitalien, seine Tätigkeit als Soldat bringt ihn bis Germanien, als Mönch und Bischof wirkt er in Gallien. Er ist ein wahrhaft europäischer Heiliger, er verbindet Völker, die damals in aller Unterschiedlichkeit zum römischen Reich gehörten, und die in ihm heute „ihren“ Heiligen sehen. Der Martinsweg ist ein sichtbarer Ausdruck dieser internationalen Verbindung. Drei Gegensatzpaare kommen mir heute in den Sinn: „Verbinden statt spalten“; „Teilen statt klammern“; „Gehen statt in Räumen einschließen“.
Der Martinsweg und die Verehrung des heiligen Martin betonen Gemeinschaft gegen Spaltungstendenzen in vielen Bereichen. Martin ist ein europäischer Heiliger. Das heutige Europa war als Friedensprojekt entstanden. Davon ist nicht nur aus aktuellem Anlass im Hinblick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht viel geblieben. Treffender als Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ kann man es nicht ausdrücken: „Jahrzehntelang schien es, dass die Welt aus so vielen Kriegen und Katastrophen gelernt hätte und sich langsam auf verschiedene Formen der Integration hinbewegen würde. So ist zum Beispiel der Traum eines geeinten Europas vorangeschritten, der fähig war, die gemeinsamen Wurzeln anzuerkennen und sich zugleich über die in ihm wohnende Verschiedenheit zu freuen. Erinnern wir uns an die feste Überzeugung der Gründungsväter der europäischen Union […], die sich eine Zukunft wünschten, die auf der Fähigkeit basiert, gemeinsam zu arbeiten, um die Teilungen zu überwinden und den Frieden und die Gemeinschaft unter allen Völkern des Kontinentes zu fördern. (FT 10) (…) „Doch die Geschichte liefert Indizien für einen Rückschritt. Unzeitgemäße Konflikte brechen aus, die man überwunden glaubte. Verbohrte, übertriebene, wütende und aggressive Nationalismen leben wieder auf. In verschiedenen Ländern geht eine von gewissen Ideologien durchdrungene Idee des Volkes und der Nation mit neuen Formen des Egoismus und des Verlusts des Sozialempfindens einher, die hinter einer vermeintlichen Verteidigung der nationalen Interessen versteckt werden. Das erinnert uns daran, dass jede Generation sich die Kämpfe und die Errungenschaften der früheren Generationen zu eigen machen und sie zu noch höheren Zielen führen muss. Das ist der Weg. Das Gute, ebenso wie die Liebe, die Gerechtigkeit und die Solidarität erlangt man nicht ein für alle Male; sie müssen jeden Tag neu errungen werden. Unmöglich kann man sich mit dem zufriedengeben, was man in der Vergangenheit erreicht hat, und dabei verweilen, es zu genießen, als würden wir nicht merken, dass viele unserer Brüder und Schwestern unter Situationen der Ungerechtigkeit leiden, die uns alle angehen“ (FT 11). Christinnen und Christen in der Nachfolge Jesu in der Verehrung des heiligen Martin vereint erinnern daran: Es gibt andere Grundlagen der europäischen Einheit als Geld, Wirtschaft und einer selbstbezogenen Lebenspraxis und Politik, die dann zu Nationalismen und im Letzten zu Konflikten und Spaltung führen. Wenn wir heute nach Europas Identität fragen, geht es – Papst Franziskus zufolge – darum, daran zu arbeiten, „dass Europa seine gute Seele wiederentdeckt“. Jacques Delors hat einmal davon gesprochen, dass Menschen Europa eine Seele geben müssen. Darin sehe ich eine entscheidende Aufgabe von uns als Kirche. Tatsächlich ist Menschlichkeit eine der Identitäten Europas. Der Mensch, und zwar der einzelne Mensch steht im Zentrum dieser Menschlichkeit: die Würde jeder Person. Damit verbindet sich die Rede von den Menschenrechten, mit denen sich auch die Kirche nicht immer leichttat. Auch die Kirchen prägten lange eine Unkultur von Abgrenzung, Abwertung anderer und Machtmissbrauch. Erst im II. Vatikanischen Konzil bekennt sich die katholische Kirche zur Religionsfreiheit, die aus der Würde der Person als Ebenbild Gottes abgeleitet wird. Es war ein langer Weg zur Anerkennung der Menschenrechte, die die Kirche im Letzten nicht der Theologie, sondern dem säkular-weltlichen Recht verdankte, wie Karl Lehmann einmal herausstellt[1]. Kirche hat in diesem zentralen Punkt durchaus von der freien Welt gelernt. Für uns als Kirche sind die Menschenrechte nicht verhandelbar, im Besonderen nicht das Recht auf Leben, gerade auch im Hinblick auf die Ungeborenen. Die Kirche kennt keine mehr oder weniger wertvollen Menschen. So sehr die Kirche von den säkularen Quellen gelernt hat, die Freiheitsrechte des Menschen zu achten, so sehr ist es heute ihre Aufgabe, aus Gründen der Menschlichkeit an mögliche Grenzen der Freiheit zu erinnern. Diese Erinnerung an die Wurzeln des heutigen Europa soll „Verbinden statt Spalten“ fördern und Menschlichkeit möglich machen. „Verbinden statt spalten“ müssen wir aber auch in der Kirche lernen. Da können wir längst nicht Vorbildfunktion beanspruchen. Und es gilt im Kleinen genauso: wie oft ist unser Denken und Reden spaltend statt versöhnend.
Natürlich ist Martin aufgrund der Mantelteilung „der“ Heilige des Teilens geworden. Für unseren „Pastoralen Weg“ im Bistum Mainz ist dieses Teilen das entscheidende Stichwort. Wir wollen Glauben, Leben, Verantwortung und Ressourcen teilen. Damit sind Stichworte benannt, die nicht nur unser kirchliches Handeln in die Pflicht nehmen, sondern auch unser gesellschaftliches Miteinander prägen sollen. In der Corona-Zeit haben wir manchmal wahrnehmen müssen, wie sehr Egoismus und Eigeninteressen die Oberhand gewinnen können. Wir haben aber auch erlebt, zu wieviel Solidarität Menschen fähig sind. Immer wieder können wir darüber staunen, wieviel Gutes in Menschen steckt. Ich denke aktuell an die große Bereitschaft, Menschen aus der Ukraine zu unterstützen. Wir erleben aber auch, dass es gegen alle Beschlüsse und Verträge keine wirksame europäische Flüchtlingspolitik gibt. Teilen ist nicht nur eine punktuelle Bereitschaft einzelner Menschen, sondern es braucht Verlässlichkeit und Klarheit. Diese fehlen in manchen Bereichen, so dass die Solidarität von Menschen vor Ort auch an Grenzen kommt. Der europäische Martinsweg verbindet die politischen Ideen und Aufträge mit der Hilfsbereitschaft vor Ort. Beide Seiten hängen zusammen. Es braucht, um das eine Beispiel zu nennen, europäische Solidarität im Hinblick auf die Menschen auf der Flucht, aber es braucht auch die Bereitschaft zum Teilen im Kleinen. Teilen müssen wir in unserer Gesellschaft als Kirche auch unseren Glauben, der Mund darf nicht schweigen von dem, wovon das Herz voll ist. Wir brauchen in unserer Gesellschaft verbindende Werte, Gemeinschaft, Verantwortungsübernahme. Als Kirche wollen wir gerne unseren Beitrag leisten. Daran erinnert uns Martin und der Martinsweg.
Wir schauen auf die Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Sie teilen ihre Enttäuschungen, ihren Glauben und ihr Leben auf dem Weg. Auf dem Weg machen sie die Erfahrung, dass der auferstandene Christus bei ihnen ist und ihr Herz zum Brennen bringt. Pilgern auch auf dem Martinsweg ist eine Chance, eine solche Weg-Erfahrung in der Gemeinschaft mit anderen zu machen, oder auch im Gehen als einzelner Pilger oder Pilgerin zu sich und zu einem neuen Zugang zum Glauben zu finden. Pilgern ist ein äußerst zeitgemäßer Ausdruck des Suchens und des Glaubens. Nicht umsonst spricht der Papst immer wieder von „Synodalität“ – der Notwendigkeit, gemeinsam zu gehen, wenn man den Begriff übersetzt. In Deutschland gehen wir den „Synodalen Weg“. Wir spüren und erleben, dass Wege mühsam sein können. Der Weg ist nicht das Ziel, aber auf dem Weg kommen wir nach und nach zu größerer Klarheit, indem wir Glauben, Leben, Zweifel, Fragen und Erkenntnisse teilen, aufeinander hören und uns nicht auseinanderbringen lassen. „Eine der Sünden, die wir gelegentlich in (unserer) Tätigkeit beobachten, besteht darin, dem Raum gegenüber der Zeit und den Abläufen Vorrang zu geben. Dem Raum Vorrang geben bedeutet sich vormachen, alles in der Gegenwart gelöst zu haben und alle Räume der Macht und der Selbstbestätigung in Besitz nehmen zu wollen. Damit werden die Prozesse eingefroren. Man beansprucht, sie aufzuhalten. Der Zeit Vorrang zu geben bedeutet sich damit zu befassen, Prozesse in Gang zu setzen anstatt Räume zu besitzen. (…) Es geht darum, Handlungen zu fördern, die eine neue Dynamik in der Gesellschaft (und der Kirche) erzeugen und Menschen sowie Gruppen einbeziehen, welche diese vorantreiben, auf dass sie bei wichtigen historischen Ereignissen Frucht bringt. Dies geschehe ohne Ängstlichkeit, sondern mit klaren Überzeugungen und mit Entschlossenheit.“ So formuliert es durch mich etwas verändert Papst Franziskus (Evangelii Gaudium 223). Kirche muss pilgern, weitergehen, ohne die Ursprünge und das Ziel zu vergessen. Nur durch das Besetzen von Räumen, die einmal entstanden sind, bleiben wir keine lebendige Kirche. Dann wird Glauben zum Museum. Dafür steht der heilige Martin nun wirklich nicht.
Diese sind im Leben des heiligen Martin kein Gegensatzpaar. Zehn Jahre lebt er als Mönch, zwischen den „aktiven“ Zeiten als Soldat und später als Bischof. Auf dem Weg des Pilgerns braucht es das Gebet, unsere Welt und unsere Kirche braucht betende Menschen. Wir dürfen als Kirche nicht das Bemühen aufgeben, Menschen zu betenden, gottverbundenen Menschen werden zu lassen. Davon ist nur wenig die Rede. Ich bete selbst, dass Martin von Tours und der nach ihm benannte Weg Helfer im Gebet und der Gottsuche werden und bleiben.
Martin möge uns helfen zu verbinden statt zu spalten, zu teilen statt zu klammern, zu gehen statt Räume zu besetzen. Und das im Gebet und im Hören auf Gott und die Erfahrungen anderer. Ich wünsche dem Martinsweg viele Pilgerinnen und Pilger und den Segen Gottes.
[1] Wahrheit und Toleranz. Zum Verständnis des Grundrechts auf Religionsfreiheit, in: Sufficit gratia tua. Miscellanea in onore del Card. Angelo Scola per il suo 70o compleanno, a cura di G. Marengo / J. Prades López / G. Richi Alberti, Venedig 2012, S. 407-424, hier S. 407-410.