Predigt von Bischof Kohlgraf beim Aschermittwoch der Künstler am 2. März 2022

„Schuld ist nie nur eine Angelegenheit zwischen mir und meinem Gott. Andere sind berührt.“

Schuld (c) Brett Sayles / pexels.com
Datum:
Mi. 2. März 2022
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Wir werden in der Kirche und in unserer Verkündigung lernen müssen, neu über Schuld, Sünde, Vergebung und Barmherzigkeit zu reden. Vielleicht haben wir die Wucht der Folgen menschlicher Schuld oft verharmlost, auch indem wir vieles zu schnell mit dem Mäntelchen der Barmherzigkeit zugedeckt haben.

Barmherzigkeit mit dem Sünder ist eine göttliche Eigenschaft. Aber oft ist dann nur der Mensch im Blick, der sich gegen jemand anderen versündigt, und nicht das Opfer der Tat eines anderen. Wir blicken so auf zwei extreme Haltungen und Botschaften. Da ist die eine, die Gott verharmlost und damit auch die Folgen der Schuld eines Menschen, wenn die „rheinische“ Lösung angeboten wird: Der liebe Gott ist doch nicht so streng. Und da ist die andere, die wohl eher der Vergangenheit angehört: nämlich einen zornigen Gott an die Wand zu malen für jede Form menschlichen Vergehens, besonders gerne konzentriert auf den Bereich der menschlichen Sexualität. Hier ist dann alles „schwere“ Sünde, was sich außerhalb der kirchlichen Ordnung bewegt.

Wir lernen derzeit, gerade in der Kirche Schuld wieder als das zu benennen, was sie ist: oft ein menschenverachtendes Verhalten, ja, ein Verbrechen. Daneben gilt es auch, einer Verharmlosung vorzubeugen, die dann geschieht, wenn manche Schwäche oder das Heraustreten aus einer kirchlich für ideal gehaltenen Lebensweise in den Rang einer schweren oder wenigstens beängstigenden Sünde und Schuld gerückt wird. Wir lernen, vorsichtiger mit dem Finger zu zeigen oder zu drohen, aber im Falle eines schweren Vergehens gegen die Würde anderer konsequenter zu sein. Im Kontext des Missbrauchs in der Kirche lernen wir, nicht nur den Täter zu sehen, sondern die Bedarfe der Betroffenen. Und es ist gut, dass die Betroffenen uns oder mir als Bischof heute rückmelden, wenn dies nicht gut gelingt. Auch ich persönlich muss diesen veränderten Blick lernen.

Schuld zerstört Leben, das kommt uns heute neu ins Bewusstsein. Schuld muss als Schuld benannt werden. Barmherzigkeit kann hier nicht heißen, die Folgen unter den Teppich kehren zu wollen. Wer Leben anderer zerstört, muss mit den Folgen seiner Tat konfrontiert werden, und eine mögliche Reue und Umkehr muss mehr sein als eine billige Selbstrechtfertigung oder ein frommes Lippenbekenntnis.

Das gilt selbstverständlich nicht allein für innerkirchliche Vorgänge und Verfahrensweisen. Wenn wir heute erleben, wie ein neuer Krieg in der Ukraine gegen jedes Völkerrecht entsteht, muss man Rechtsbruch und Missachtung der Menschenwürde schonungslos als solche benennen. Gegen Verletzungen der Würde anderer Menschen werde ich, werden wir, auch in unserem nächsten Lebensumfeld offen und klar eintreten müssen. Schuld ist nie nur eine Angelegenheit zwischen mir und meinem Gott. Andere sind berührt. Jesus wusste dies sehr gut, wenn er in der Bergpredigt die Sünde bereits im Denken des Menschen verankert. Sünde beginnt im Denken, Urteilen und mündet im Verhalten. Sobald ich etwa jemanden missachte, nehme ich ihm bereits dadurch seine Würde und seine Achtung.

Das hat Folgen etwa für das Sakrament der Versöhnung, die Beichte. In den letzten Monaten war sie immer wieder Thema von Diskussionen. Hat sie nicht zur Vertuschung schlimmer Verbrechen beigetragen? Ich glaube das nicht, oder ich wage mir das nicht vorzustellen. Es ist eben nicht getan mit Bekenntnis und Lossprechung, sondern es sollte immer auch Ziel sein, konkrete Schritte der Reue und, wenn möglich, Wiedergutmachung in den Blick zu nehmen. Ich halte das Bußsakrament für einen großen Schatz der Kirche. Es gibt die Möglichkeit, das eigene Leben vor Gott zu tragen, und immer darf ich auf seine Barmherzigkeit hoffen, die größer ist als unser Herz. Die Beichte kann sich aber nicht darin erschöpfen, Bußkataloge abzuhandeln, und damit folgenlos das Seelenkonto „auf Null“ zu setzen. Daher kennt die Tradition auch die Forderung nach echten und in bestimmten Fällen auch öffentlichen Zeichen der Reue und Umkehr. Bei vielen schlimmen Taten innerhalb und außerhalb der Kirche gilt es also, Klartext zu reden und nichts zu beschönigen oder zu relativieren. Barmherzigkeit ohne das Bemühen um Gerechtigkeit ist ebenso falsch wie eine kalte Gerechtigkeit, die erbarmungslos über einen Menschen urteilt. Es gibt jedoch dabei eine Versuchung: Je deutlicher ich mich über das Vergehen eines anderen äußere, für desto gerechter erkläre ich mich selbst. Es mag manchem in dieser Fastenzeit bitter aufstoßen, dass die Liturgie uns alle als schuldige und sündige Menschen vor Gott stellt. Es wird Gott nicht beeindrucken, dass wir uns möglicherweise selbst für gerecht halten und milde über uns selbst urteilen. In den aktuellen Debatten um die Kirche und in der Kirche gibt es die Versuchung, den Pranger wieder aus der Versenkung zu holen. Manchmal kann er auch von eigenem Versagen ablenken.

Vom heiligen Bischof und Kirchenvater Ambrosius von Mailand (339-397) gibt es eine Schrift über das Thema eines guten Todes. Darin bekennt er seinen Glauben an einen gütigen Herrn, in dessen guten Armen er sich ewige Heimat und Frieden erhofft. Es ist ein wichtiges Zeugnis einer dann traditionell christlichen Lebenshaltung: eines lebenslangen Lernens des Abschiednehmens und des Bewusstseins, in dieser Welt nicht letzte Heimat zu haben. Dabei wurde aber auch nie das biblische Motiv des Gerichts Gottes über den Menschen vergessen. In den letzten Jahrzehnten war davon nicht mehr oft die Rede. Wir sollten dieses Element der Verkündigung neu entdecken, aber nicht im Sinne einer billigen Drohung und Ängstigung der Gläubigen. Es gehört aber zum Glaubensschatz der Kirche, dass es vor Christus, dem Richter der Lebenden und der Toten, Gerechtigkeit für die Opfer und die Vergessenen der Geschichte geben wird, die sie hier auf Erden nur in Ansätzen finden können –bestenfalls. Dazu gehört auch, dass die Tyrannen und Menschenverächter dieser Welt durch ein Feuer der Selbsterkenntnis und Läuterung werden gehen müssen. Für den glaubenden Menschen ist Schuld immer auch „Sünde“, das heißt, es stört seine Beziehung zu Gott, die Gott selbst wird retten müssen. Es ist sicher nicht zum Schaden, wenn wir uns in diesen Tagen der Buße daran erinnern lassen, dass wir alle unter seinem Anspruch stehen, Menschen der Liebe zu werden in Tat und Wort. Es ist Teil des biblischen Glaubensschatzes, im Glauben an den großen Gott, der seinen Sohn hingibt, um uns zu retten, auf Barmherzigkeit zu hoffen, dabei aber auf Gerechtigkeit zu vertrauen.

Ich wünsche mir: eine klare Ermutigung zum Guten, eine ehrliche Benennung von Schuld und menschenverachtender und zerstörender Taten, das Bemühen um Gerechtigkeit, ohne schuldige Menschen zu dämonisieren oder vorzuverurteilen. Ich lade ein zur christlichen Lebensschule, sich stets unter dem Blick des Richters Christus zu wissen, der gekommen ist, zu retten, nicht zu richten. Die Fastenzeit ist eine große Chance für jeden und jede: zum Innehalten, zum Herunterdrehen der Hitze im Denken und Reden, zum Gebet und in der Haltung, sich in die Arme Gottes zu geben. Dazu wünsche ich allen eine gesegnete Zeit.