Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Gottesdienst beim Empfang am Vorabend der Tag der Arbeit, Dom zu Mainz, 30. April 2022

Seine Botschaft und seine Nähe will Menschen aufrichten

Datum:
Sa. 30. Apr. 2022
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Es ist noch nicht so lange her, dass Pflegekräfte beklatscht wurden und ihre „Systemrelevanz“ mit starken Worten herausgestellt wurde. Als Sohn einer Krankenschwester weiß ich noch gut um die Mühen dieser Arbeit, aber auch die Wertigkeit, für andere Menschen da sein zu können. Die Pflege ist im Dauer-Notstand: Es ist „fünf nach zwölf“. Dies wird uns nach diesem Gottesdienst intensiv beim Austausch im Erbacher Hof beschäftigen. Es ist gut, den Finger in die Wunde zu legen. Und es ist hier auch der Ort, die Arbeit der Menschen in Pflegeberufen wertzuschätzen und ihnen einen herzlichen Dank zu sagen, nicht nur angesichts der Strapazen in der Corona-Krise. 

Politische Analysen und deren Bewertung will ich gerne dem weiteren Verlauf des Abends und den Expertinnen und Experten überlassen. Aber das Thema von Heilung, Pflege, Zuwendung führt selbstverständlich ins Herz der christlichen Botschaft. Denn: Christus ist der Heiland. Er heilt, er rettet, er berührt, er wendet sich dem Menschen zu. All das steckt in dem alten Wort vom Heiland. Seit den 1970er Jahren meidet man in der Verkündigung und im Religionsunterricht dieses Wort, klingt es doch zu sehr nach dem „lieben Heiland“, der kitschig und nichtssagend geworden ist. Seit ein paar Jahren allerdings entdeckt man wieder den Wert einer heilenden Rede und Praxis in der Kirche in der Nachfolge Jesu. Wenn Jesus Heiland ist, dann heißt das auch: Seine Botschaft und seine Nähe will Menschen aufrichten, stärken, ja, sie will ihnen Heil schenken an Leib und Seele. Christus ist der Heiland. Wir feiern diesen Gottesdienst in der Osterzeit, in der wir immer auch die Erzählungen aus der Urgemeinde in Jerusalem hören. Und es fällt deutlich auf: Die Jünger Jesu heilen und richten auf. Das gehört zum Kernauftrag der Kirche, darin verwirklicht sich unter uns Menschen das Reich Gottes. 

Direkt im dritten Kapitel der Apostelgeschichte des Lukas findet sich die Heilung des Gelähmten vor dem Jerusalemer Tempel. Dieser Mann bettelt dort, wie jeden Tag. Als die Apostel vorübergehen, erwartet er ein Almosen, als das Unerwartete geschieht. Sie sprechen ihn an, sie fassen ihn an, sie schauen ihn an, und das richtet ihn auf, im Namen Jesu. Menschen helfen in der Verwirklichung des Reiches Gottes, indem sie Zeit, Aufmerksamkeit, Nähe, Berührung und Augenhöhe schenken. Vielleicht haben sich die Jünger sehr gewundert, was da geschehen ist. Denn diese Gabe kommt nicht allein aus ihnen, aber sie geben etwas weiter, was in ihnen „sprudelt“, sie haben eine innere Quelle. 

Jeder und jede im Dienste anderer Menschen braucht eine innere Quelle, die Kraft gibt, die den anderen nicht zur Nummer und zum reinen Objekt werden lässt. Heute will ich den Glauben als eine derartige Quelle anbieten. Der frühere Aachener Bischof Klaus Hemmerle hat dies in einem kurzen Text so zusammengefasst: „In mir ist eine Quelle. Der Geist Gottes selbst hat mir eine Quelle gegraben, die verschüttet sein mag, die aber kräftiger ist als alles, was sie zu verdecken und zu ersticken droht. Aus der Quelle leben, indem ich selber versuche, Quelle zu sein für andere! Ich kann jeden Tag Zuversicht geben-und wenn so aus meiner Quelle lebendiges Wasser entspringt, habe ich selbst das Wasser, das ich zum Leben brauche.“ Tatsächlich brauchen die Menschen, die für andere da sind, solche inneren Quellen. Ich wünsche allen Menschen in der Pflege, dass sie solche Quellen haben, die ihr Inneres nicht austrocknen lassen. In vielen Einrichtungen bieten wir Seelsorge an. Ich lade alle ein, sie zu nutzen, um die eignen Quellen am Sprudeln zu halten. Denn ich bin davon überzeugt, dass jemand auf Dauer nur etwas weitergeben kann, was ihn selbst erfüllt. 

Bischof Klaus Hemmerle hat einmal das Bild gebraucht: Wer als Christin oder Christ lebt, hat österliche Augen. Ein schönes Bild, denn es macht Mut dazu, gerade auch die leidenden und kranken Menschen mit Hoffnung und Liebe zu betrachten, sozusagen durch die Augen Jesu. Er traf immer wieder auf Menschen, die schwach waren, krank, verzweifelt, ohne Perspektive. Diese Menschen gehören in das Zentrum der kirchlichen Lehre und Praxis und des gesellschaftlichen Interesses. Die Starken kommen vielleicht alleine zurecht, aber jeder Mensch kommt irgendwann in eine Situation, in der er Hilfe, Zuwendung, Nähe und Pflege braucht. Wenn ich die Evangelien lese, entdecke ich als eine Kernbotschaft, dass es keine Schande ist, schwach und krank zu sein. Jeder Mensch ist in eigener Art und Weise hilfebedürftig. In einer Zeit, in der Fortschritt, Schnelligkeit und Leistungsfähigkeit entscheidende Eigenschaften sind, die über die Einschätzung einzelner Menschen bestimmen, darf ich die Botschaft hören: Du darfst schwach sein, du bist uns keine Last, wir sorgen uns um dich. Denn es ist Ausdruck des christlichen Menschenbilds, dass er keine Maschine ist. Krankheit ist kein mechanischer Schaden, wo man nur einen Teil auswechseln oder irgendwie bearbeiten muss, um den Organismus wieder ans Laufen zu bekommen. Ein kranker Mensch ist als ganzer krank. 

Wer mit kranken Menschen arbeitet, bewegt sich natürlich immer auf dem schmalen Grat zwischen professionellem Abstand und dem Wahrnehmen des ganzen Menschen und seiner Situation. Jesus konnte es sich leisten, sich ganz dem einzelnen Menschen zuzuwenden, das macht seinen Heilsdienst aus. Er kannte den Menschen und schaute auf seinen Leib und in seine Seele. Er hatte den ganzen leidenden Menschen im Blick. In der Corona-Pandemie haben wir gelernt, wie wichtig das sein kann. Über viele Strecken war allein die körperliche Gesundheit im Blick. Menschen in Krankenhäusern und Pflegeheimen sind alleingeblieben, um ihre körperliche Gesundheit zu schützen. Ist das die Fülle des Heils, von der Jesus spricht und so handelt? Natürlich, Menschen sollen leben. Aber was bedeuten Einsamkeit und Distanz besonders für kranke, sogar sterbende Menschen Jüngst erzählte mir noch jemand, er habe im Pflegeheim seine sterbende Mutter nicht besuchen dürfen aus der Sorge um eine Corona-Infektion. Die Mutter ist allein gestorben. Menschen in der Pflege werden von derartigen Schicksalen betroffen, oft waren sie dann diejenigen, die die Hand gehalten haben in den letzten Minuten. Ein wenig sind die Maßstäbe verrückt in den diesen Zeiten. Das Heil des ganzen Menschen war nicht immer im Blick. 

Zum Heiland-Sein Jesu gehörte, dass er den leidenden Menschen nach seinen Wünschen fragte. Pflege ist ein professioneller Beruf, aber er ist kein Besserwissen. Es wird immer nötig sein hinzuhören, was Menschen brauchen. Es ist dabei notwendig, sich zu verdeutlichen, dass es beim Patienten um einen Menschen geht, der abhängig ist, unselbständig, ratlos und oft von Sorgen und Ängsten geplagt. Die Art der Kommunikation und der Aufmerksamkeit zeigt die Sensibilität der Pflegenden. Dazu gehören auch Nähe und Berührung. Viele Heilungen Jesu sind mit Berührungen verbunden. Er hatte keine Angst, sich selbst „unrein“ zu machen. Pflege ist körperliche Nähe, bis ins Intimste, es ist harte Arbeit, die körperlich und seelisch an Grenzen führt. Wir werden an diesem Abend sicher auch darüber sprechen, welche Bedingungen Politik und Arbeitgeber schaffen können, um diese Arbeit angemessen zu würdigen. Welche Bedingungen sind notwendig, um diese Arbeit dauerhaft mit Freude und Begeisterung leisten zu können? Es geht dabei sicher nicht nur um finanzielle Anreize; es geht mindestens genauso um Wertschätzung und gute Arbeitsbedingungen. Aber eben auch um Haltungen, bei denen der Glaube eine Quelle der Motivation sein kann. Ich will noch einmal Klaus Hemmerle zitieren: „Die Kirche hat den Auftrag, Gottes Selbsthingabe in Jesus weiterzugeben an alle. Jedem Menschen soll mitgeteilt und beglaubigt werden: Du bist von Gott unendlich geliebt, so sehr, dass er seinen Sohn für dich hingegeben hat. Und in der Bezeugung dieser Liebe eröffnet sich die unerhört neue Zukunft.“

Mit derartig österlichen Augen schauen wir auf die Menschen, die uns anvertraut sind. Gott hat sich für dich und für mich hingegeben. Das verbindet Pflegende und die ihnen Anvertrauten, es ist ein starkes Band. Ich danke gerne allen, die in der Pflege arbeiten, ich hoffe, dass es nicht beim Corona-Applaus bleibt. Das ist Aufgabe der Politik, aber natürlich auch Aufgabe der Kirche. Wenn wir heute über Jesus, den Heiland nachdenken und uns von ihm begeistern lassen, dann werden wir als Kirche daran arbeiten müssen, immer mehr eine menschennahe und heilende Kirche zu sein und zu bleiben.