Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Ökumenischen Gottesdienst zum Rheinland-Pfalz-Tag Dom zu Mainz, Samstag, 21. Mai 2022, 10 Uhr

„Suchet das Wohl der Stadt, in die ich euch weggeführt habe, und betet für sie zum HERRN; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl.“ (Jer 29,7)

20210113_124721 (c) bistummainz
Datum:
Fr. 20. Mai 2022
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Der Prophet Jeremia schreibt an die Menschen im babylonischen Exil einen erstaunlichen Brief. Die Angehörigen des Gottesvolkes leben inmitten einer Gesellschaft, die sie bestenfalls neugierig beobachtet, aber oft genug als Fremde sieht. Und auch die Jüdinnen und Juden in der Verbannung sehen sicher nicht alle mit Wohlwollen auf diejenigen, in deren Gemeinschaft sie nun gezwungenermaßen leben müssen. 

Das ist nur bedingt mit unserer Situation vergleichbar. Eine andere Reaktion als die das Jeremia wäre menschlich ja durchaus verständlich gewesen: Abgrenzung, das Klammern an die eigene kulturelle und religiöse Identität, das Verächtlichmachen der anderen in ihren Traditionen und Einstellungen. So hätte man gut überleben und dann eines Tages an die große Vergangenheit anknüpfen können. Jeremia sieht es anders. Identität und Zukunft erhält das Volk Gottes nicht durch Abschottung, sondern indem es sich in die Gesellschaft hineingibt, Kontakte knüpft, Beziehungen aufbaut, zum Segen der Gesellschaft wirkt und für alle betet. Der Prophet hat offenbar keine Angst davor, dass wichtige Glaubenshaltungen durch Austausch verloren gehen könnten. Bewährtes wird sich bewahren, Neues wird möglich werden. Identität einer Glaubensgemeinschaft wird nicht durch starres Klammern an Vergangenes gesichert und auch nicht nur durch Erträumen einer besseren Zukunft, sondern indem man vertrauensvoll in der Gegenwart lebt; und diese Gegenwart ist immer auch Gottes Zeit, so wie die Welt in allen Wechselfällen Gottes Welt bleibt, der ihr die Treue hält. „Der Wille Gottes gibt sich in den Verhältnissen zu erkennen, die der Herr in die Geschichte eintreten lässt.“ (Josef Schreiner).

Es gab offenbar auch andere prophetische Stimmen, die das Volk auf eine irgendwann eintretende bessere Zukunft vertrösten wollten und die zur Abschottung aufriefen. Sie nennt Jeremia Lügner. Die Menschen des Gottesvolkes haben eine klare Aufgabe für die Gemeinschaft und in der Zeit, in der sie hier und jetzt leben. Sie stehen für Zukunft und Hoffnung, für einen Glauben an das Heil, das Gott für die Menschen will, für die Arbeit an einer lebendigen Beziehung zwischen den Menschen und zu Gott selbst. Gott lädt ein, ihn zu suchen. Auch das Volk Gottes „besitzt“ und verwaltet ihn nicht. Ich denke an bestimmte Bilder aus dem „Hohenlied“, in dem die Beziehung zwischen zwei liebenden Menschen zum Vergleich zwischen Gott und dem liebenden und suchenden Menschen werden kann. Gott sucht nach dem Menschen, der Mensch hält nach Gott und seinem Willen Ausschau.

Noch einmal: Die Situation der Zeit des Jeremia und unserer Welt ist nur bedingt vergleichbar. Aber im Nachdenken über die Botschaft Jeremias sehe ich wichtige Anregungen für uns heute, für unsere Kirchen und Religionsgemeinschaften, für das Miteinander von glaubenden und nichtglaubenden Menschen in ihrer zunehmenden Vielfalt. Besonders in der katholischen Kirche ringen wir angesichts der sich verändernden Bedeutung der Kirche(n) um die christliche Identität, wir ringen um eine dem Evangelium und den Bedarfen der Menschen unserer Zeit angemessene Sprache und Gestalt der Kirche und ihrer Verkündigung. Die christlichen Kirchen werden zahlenmäßig geringer werden, aber dadurch muss sich ihre Relevanz nicht verringern. Es gibt auch in meiner Kirche beide Positionen, vor denen der Prophet warnt: Diejenigen, die durch das Bewahren alter Formen und Abgrenzung zur als oft bedrohlich empfundenen Umwelt die eigene Identität bewahren wollen, die anderen, die von einer Zukunft träumen, in der alles irgendwie für die Kirchen gut werden wird.

Ich glaube, dass der Prophet uns einen anderen Weg vorschlägt: den Willen Gottes im Miteinander mit Andersdenkenden und Andersglaubenden zu suchen, und die Gegenwart und das Hier und Jetzt schätzen und lieben zu lernen. Das ist der erste Schritt, die christliche Identität leben zu können. Dazu kommen die Haltungen und die Botschaften, die Jeremia mit kurzen Sätzen zusammenfasst. Glaubende Menschen sind immer Realisten, aber sie trauen den Menschen und Gott viel Gutes zu. Derzeit sehen wir auch durch die Kriegsereignisse die dunklen Seiten des Menschen. Wir sehen aber auch die lichtvollen Möglichkeiten des Menschen und der Gesellschaft als ganzer. Ich erinnere an viel Hilfsbereitschaft und Engagement für notleidenden Menschen, nicht zuletzt für Menschen auf der Flucht, aber auch in vielen anderen Notsituationen. Die Rolle der Menschen, die dies auch aus religiöser Motivation tun, ist nicht zu unterschätzen. Und die Kirchen werden es immer auch als unsere Aufgabe ansehen, zur Gottsuche einzuladen, denn natürlich sind wir nicht nur Kinder dieser Welt. Die Gottesfrage wachzuhalten durch Zeugnis in Tat und Wort bleibt der Auftrag des Evangeliums.

Christinnen und Christen gehören zwei Welten an, die aber ineinandergreifen. Als ich den Text des Jeremia las, musste ich an eine frühchristliche Schrift denken, den sogenannten Diognetbrief aus dem 2. Jahrhundert. Dort beschreiben sich die Gläubigen in ihrem Verhältnis zu ihrer Umwelt: „Die Christen nämlich sind weder durch Heimat noch durch Sprache noch durch Sitten von den übrigen Menschen unterschieden. Denn sie bewohnen weder irgendwo eigene Städte noch verwenden sie eine abweichende Sprache noch führen sie ein absonderliches Leben. Und sie bewohnen griechische und nichtgriechische Städte, wie es ein jeder zugeteilt erhalten hat; dabei folgen sie den einheimischen Bräuchen in Kleidung, Nahrung und der übrigen Lebensweise. Sie bewohnen ihr jeweiliges Vaterland, aber wie fremde Ansässige; sie erfüllen alle Aufgaben eines Bürgers und erdulden alle Lasten wie Fremde; jede Fremde ist für sie Vaterland und jede Heimat ist für sie Fremde. Auf Erden halten sie sich auf, aber im Himmel sind sie Bürger. Sie gehorchen den bestehenden Gesetzen und überbieten durch ihre eigene Lebensweise die Gesetze.“

Für mich ist dieser Blick in meine himmlische Heimat eine starke Motivation, das Hier und Jetzt als Gottes Welt zu lieben und zu gestalten. Und abschließend heißt es im Diognetbrief: „Was die Seele im Leib ist, sind die Christen in der Welt.“ Mit diesem Hinweis auf den Gott, der uns alle als seine Kinder liebt, können wir weiter zum Segen werden.