Jeder und jede ist zur immer neuen Hinwendung zu Gott, zur Umkehr und Erneuerung im Glauben gerufen. Zu oft zeigen wir auf die anderen. Bischöfe fordern von anderen, die anderen fordern von den Bischöfen. Der Markenkern der Kirche ist der Geist Gottes. Und damit gehört zum Markenkern, das „Wir“ starkzumachen gegenüber einer Haltung, die nur von anderen fordert. Das heißt nicht, sich die Kritik gegebenenfalls zu ersparen oder Fragen stellen zu müssen.
Jedes Jahr freue ich mich auf das Pfingstfest. Es ist ein Fest des Aufbruchs, ein Fest der Hoffnung, ein Fest der Gemeinschaft und des Lebens. Vor einigen Tagen fand in Stuttgart der Katholikentag statt. Diejenigen, die dort waren, haben Gemeinschaft erlebt, wenn auch bei kleineren Teilnehmerzahlen als in früheren Jahren. Wie steht es denn aber mit Hoffnung, mit Aufbruch, mit neuem Leben? Es gab solche Erfahrungen. Viele Menschen in der Kirche haben die Hoffnung auf die Kraft des Geistes nicht aufgegeben. Andere jedoch streichen die Segel, weil sie keine Erneuerung mehr erwarten. Ob sie sie woanders finden, wage ich allerdings zu fragen.
Eine Bewertung des Katholikentags in einer Zeitung (Annette Zoch in der Süddeutschen Zeitung vom 28.05.2022) hat mich beschäftigt. Dort wird resümiert: Die Kirche hat ihren Markenkern verloren, nämlich ihre Glaubwürdigkeit. Ja, es stimmt. Viele Menschen glauben der Verkündigung nicht mehr wegen so mancher, auf dem Tisch liegenden Erfahrungen, nicht zuletzt der Missbrauchsverbrechen, aber auch der Erfahrung eines mangelnden Willens zu erkennbaren Reformen. Und es gibt weitere individuelle Gründe.
Auch mir als Bischof helfen oberflächliche Durchhalteparolen nicht. Das Pfingstfest führt mich an die Quellen und Ursprünge der Kirche zurück. Was ist denn der Markenkern der Kirche? Es ist wohl nicht der Heldenmut und die Fehlerlosigkeit der damaligen und heutigen Zeuginnen und Zeugen. Petrus, der die große Pfingstpredigt hält, hat Jesus verleugnet. Er steht moralisch ziemlich nackt dar. Und dennoch kann er von der großen Heilsgeschichte Gottes reden. Und die Menschen verstehen ihn und lassen sich begeistern. Es ist nicht kleinzureden. Diejenigen, die in der Kirche Verantwortung tragen, sind in der Verantwortung, persönlich glaubwürdig zu leben und zu reden. Glaubwürdigkeit ist aber nicht nur den Verantwortungsträgern aufgegeben.
Aber ist das der Markenkern kirchlichen Lebens? Das Pfingstfest gibt eine andere Antwort. Der Markenkern ist die Kraft des Geistes, der der Kirche zu allen Zeiten geschenkt wird. Wir können den Geist auslöschen, durch fehlende Bereitschaft zur Veränderung, durch Mutlosigkeit, durch Selbstverherrlichung und andere Grundhaltungen, die dem Wirken des Geistes Gottes keine Chance geben. Daher ist unser aller Verhalten, sind unsere Haltungen nicht unbedeutend. Den Geist löschen auch Haltungen aus, die schon immer wissen, was sein Wille ist. Diese geisttötenden Haltungen und Einstellungen gibt es in allen kirchlichen Richtungen. Nicht nur die „konservativen“ Glaubensgeschwister, sondern auch die selbstbewussten Reformerinnen und Reformer sind in Gefahr zu meinen, den Geist für sich gepachtet zu haben.
Als Bischof suche ich mit ihnen allen Wege, die Kirche zu erneuern, ohne den Markenkern, die Kraft des Geistes auszulöschen. Ich gebe zu: Mein Misstrauen gegenüber zu einfachen Antworten auf komplexe Fragen nach den richtigen Wegen hat sich verstärkt. Austreten oder drinbleiben? – so fragen manche derzeit in persönlicher Betroffenheit. Ich erlebe beide Seiten. Menschen halten die Zerrissenheit zwischen ihren Glaubenssehnsüchten und der kirchlichen Realität nicht mehr aus, andere setzen den Schlusspunkt nach einer langen Entfremdungsgeschichte. Ich feiere heute am Pfingstfest: Glauben ohne Gemeinschaft hat keine Zukunft. Davon bin ich tatsächlich fest überzeugt. Auch wenn ich nicht Bischof wäre, würde ich in der Kirche bleiben. Denn sie ist die Gemeinschaft derer, die nach dem Willen des Geistes suchen, um ihn ringen, und aushalten müssen, dass sie auf andere Glaubende mit anderen Positionen treffen. In der Kirche begegne ich Christus in den Sakramenten, seinem Wort und den vielen glaubenden Menschen.
Liebe Schwestern und Brüder, vielleicht spüren Sie: Ich habe mehr Fragen als Lösungen. Diese Fragen gehe ich aber in großer Hoffnung an, weil uns der Geist zugesagt und geschenkt ist. Er ist der Markenkern der Kirche. Für mich ist die Kirche als Glaubensgemeinschaft nicht aus meinem Leben wegzudenken. Ich erlebe täglich die Schwächen dieser Gemeinschaft und trage sicher auf meine Weise auch zu ihnen bei. Dennoch erlebe ich täglich ebenso die vielen Menschen, die wahrnehmbar oder auch verborgen ihren Glauben leben, die für mich auf diese Art Zeuginnen und Zeugen des Heiligen Geistes sind. Es gibt auf den verschiedenen Seiten der kirchlichen Positionen die erklärte Sehnsucht nach einer perfekten Kirche. Die einen fordern eine Kirche derer, die klar in den Glaubenspositionen und der moralischen Lehre stehen. Für sie sind die Bischöfe zu lasch und zeitgeistig nichtssagend. Allerdings läuft eine in dieser Richtung konsequente Kirche immer Gefahr, Menschen zu verletzen und auszugrenzen, die dem Ideal nicht entsprechen. Es gibt schlimme Beispiele in der Geschichte, die zeigen: Diese Haltung ist nicht harmlos. Für die anderen sind die Bischöfe die Bremser jeden Fortschritts, dessen Schritte sie selbst definieren. Auch diese Gläubigen machen mir Sorgen, weil es am Ende möglicherweise kein Gespräch mehr geben wird. Ich fürchte, wir werden wie die frühe christliche Gemeinde derartige Spannungen weiterhin aushalten müssen.
Niemand hat den Heiligen Geist für sich gepachtet, und dennoch braucht es konkrete Schritte der Erneuerung und der Umkehr. Als das Zweite Vatikanum von der Kirche als einer immer zu erneuernden Gemeinschaft sprach, hatte es jedoch nicht nur die Bischöfe im Blick. Jeder und jede ist zur immer neuen Hinwendung zu Gott, zur Umkehr und Erneuerung im Glauben gerufen. Zu oft zeigen wir auf die anderen. Bischöfe fordern von anderen, die anderen fordern von den Bischöfen. Der Markenkern der Kirche ist der Geist Gottes. Und damit gehört zum Markenkern, das „Wir“ starkzumachen gegenüber einer Haltung, die nur von anderen fordert. Das heißt nicht, sich die Kritik gegebenenfalls zu ersparen oder Fragen stellen zu müssen. Aber ich erlebe als Bischof durchaus immer wieder: Ich bin derjenige, der mit allen Problemen der Kirche identifiziert wird. Ich entziehe mich nicht meiner Verantwortung, aber für die Glaubwürdigkeit der Kirche und des Evangeliums stehen wir im Letzten alle ein. Den Geist Gottes kann man nicht durch Druck fordern, sondern ihn nur erbitten und dann mit ihm zusammen an die Arbeit gehen.
Auch im Zusammenhang des Katholikentags war von neuem Druck auf die Bischöfe die Rede. Es ist keine Ausrede, wenn ich darauf hinweise: Manche Forderungen, die ich durchaus aufgreifen will, gehören nicht zur Entscheidungsebene eines Bischofs in Deutschland. Wer Druck ausübt, muss darauf achten, sich nicht im Besitz der sicheren Wahrheit zu wissen und den anderen als denjenigen zu betrachten, der auszuführen hat. Ich gebe zu: Dies entsprich nicht meinem Kirchenbild. Zu Recht stellen Menschen in der Kirche die Deutungshoheit der Amtsträger über ihr Leben infrage. Auch die Lehre der Kirche übte Druck aus, teils mit verheerenden Folgen für die betreffenden Menschen. Als Bischof sehe ich darin keinen gangbaren Weg. Wir werden weiter gemeinsam nach guten, geistvollen und durchaus visionären Wegen suchen müssen. Wer Druck ausübt, hat den Prozess der Suche nach der Unterscheidung der Geister für sich für beendet erklärt. Wenn der Papst zu einem synodalen Weg aufruft, und wir einen solchen in Deutschland gehen, dann dürfen wir uns diesen mühsamen Prozess des Ringens und der Unterscheidung nicht ersparen. Das gilt für Bischöfe, das gilt für Konservative und Reformer und auch für die Vielen, die vielleicht sogar eine Veränderung jeglicher Art befürchten, weil ihre scheinbar bequeme Glaubens- und Kirchenwelt infrage gestellt wird. Und eine Gruppe wird gerne vergessen: diejenigen in der Kirche, die von den dauerhaft geführten innerkirchlichen Diskussionen nichts halten, weil sie dies als eine unangemessene dauerhafte Selbstbespiegelung ansehen, die an den eigentlichen Themen dieser Welt vorbeigetn. Mit diesen verschiedenen Gruppen haben wir es in der Kirche zu tun. Wir werden einander aushalten müssen. Selbstredend darf dies kein Vorwand sein, sich vor Entscheidungen dauerhaft zu drücken. Aber niemand hat per se die volle Erkenntnis, diese finden wir nur gemeinsam im Hören auf das Wort Gottes und die Stimmen der anderen.
Kirche ist von Anfang an Vielfalt, die Pfingstgeschichte nennt die vielen Völker und Nationen, die Sprachen und Kulturen. Die Weltkirche in ihrer Vielfalt der Kulturen und Glaubenszugänge sieht die Apostelgeschichte als Reichtum, nicht als Bremse der Verkündigung. Viele Stimmen benennen eine andere Erfahrung. Ich will an diesem Tag die Weltkirche auch mit dem Papst als Symbol der Einheit als Schatz in Erinnerung rufen. Wieviel Reichtum bringen Priester und andere Gläubige der Weltkirche auch in unser Bistum ein. Aufgrund ihrer Erfahrung sehen sie vielleicht manche unserer Themen und Antworten kritisch, oder sie wären in manchen Fragen vielleicht erheblich radikaler als unsere oft gutbürgerlichen Gemeinden. Papst Franziskus hat immer wieder davon gesprochen, dass es kulturelle und religiöse Vielfalt als Ausdruck des Katholischen geben müsse, ohne dass die Einheit in Gefahr wäre. Mir scheint dies eine Frage zu sein, auf die auch der Papst noch konkrete Antworten schuldig bleibt. Dennoch bin ich für seine wichtigen Signale in diese Richtung dankbar.
Die Kirche hat den Markenkern verloren? Ja, wir müssen uns um Glaubwürdigkeit bemühen. Aber der Markenkern ist der Geist Gottes, ist die Gegenwart des Auferstandenen in unserer Mitte. Daher habe ich Hoffnung, Visionen, ich spüre Leben und Aufbrüche. Daher feiere ich gerade in diesen Zeiten gerne Pfingsten und bete: Sende aus deinen Geist, und das Angesicht der Erde und der Kirche wird neu.