Der Blick in die schöne neue Bildungswelt – so könnte man einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am vergangenen Sonntag überschreiben.[1] Es ging dort um den Einsatz künstlicher Intelligenz in Schulen in China, ein wachsender Markt, der die Pädagogik komplett verändert.
Wenige Kostproben seien erlaubt: Einmal pro Sekunde erfassen Kameras das Schülerverhalten im Raum, also 2400mal pro Unterrichtseinheit. Es wird gemessen und ausgewertet, ob die Schüler schreiben, den Kopf hängen lassen oder sogar schlafen. Auch das Verhalten einzelner Kinder wird regelmäßig ausgewertet. Ist das Kind stiller geworden? – Das wird dem Lehrer gemeldet. Dem Lehrer stehen zur Bewertung der Kinder und Jugendlichen objektive Datensätze zur Verfügung, die Benotung erfolgt nach „objektiven Wahrheiten ohne menschliche Fehlerquote.“ Gleichzeitig erfasst das System auch das Lehrerverhalten. Schüler und Lehrer werden zu Datensätzen. Offenbar gibt es nur wenig Widerstand gegen dieses Bildungsideal, aber Kritiker nehmen eine besorgniserregende Entwicklung wahr. Bildung dient nicht der Unterstützung von Persönlichkeiten und ihrer Talente, sondern der Prüfungsvorbereitung. Diese Art der Bildung führt wohl zunehmend zu Schülerinnen und Schülern, die allein auf Leistung getrimmt werden, während Hobbies, Kreativität oder anderweitige Interessen der angezielten Bildung eher im Wege stehen. Beziehung zwischen Lehrern und Schülern wird ersetzt durch Algorithmen. In fünf Jahren strebt die Regierung an, die Hälfte aller Schulen in China derart auszustatten.
Das ist (noch) nicht unsere Realität. Dennoch dürfen wir auch hierzulande nicht die Tendenzen übersehen, welche den Sinn der Bildung junger Menschen im Wesentlichen darin sehen, fit für die Wirtschaft und den Wettbewerb gemacht worden zu sein. Die Schülerfrage, die sich bis in die universitäre Bildung hinzieht: „Was bringt mir dieses und jenes, was habe ich davon, wenn ich das mache?“ – ist nur eine logische Konsequenz. Bildung wird dann gleichgesetzt mit dem Nützlichen allein, dem Verwertbaren. Wir sollten nicht versäumen, an den Wert der Bildung zu erinnern, die Persönlichkeit entwickeln hilft, die Kreativität und Kritikfähigkeit schult und schließlich auch die existenziellen Fragen des Menschen ernst nimmt, die ihn als Wesen mit Transzendenz auszeichnen: die Frage nach dem Sinn, der Herkunft, dem Umgang mit Schuld, dem Sollen und der Hoffnung, im Letzten die Frage nach Gott.
Darin liegt der große und unverzichtbare Wert des Religionsunterrichts in der Schule: sich den Themen zu stellen, die vordergründig erst einmal nichts „bringen“, ohne deren Behandlung ein menschliches Leben jedoch verkümmert. Dabei wird nicht die Einstellung benotet, wohl aber die Fähigkeit, kritisch die Fragen des Lebens zu reflektieren und eine eigene Haltung zu den Fragen und auch den Antworten der Religion einzunehmen. Der Religionsunterricht ist keine bloße Information, sondern Bekenntnis zu einer bestimmten gelebten Form des Glaubens. Er ist konfessionell. Dieses Selbstverständnis wird zunehmend hinterfragt. Ich halte die Bekenntnisorientierung für einen hohen Wert. Wenn jemand einem Bekenntnis begegnet, muss er sich dazu verhalten. Es fördert die kritische Reaktion, es provoziert die Auseinandersetzung mit den Fragen und Antworten, die ein rein informativer Unterricht in dieser Form nicht leisten will.
Sie, liebe Lehrerinnen und Lehrer, werden heute zu einem solchen persönlichen und kirchlichen Zeugnis gesandt. Und Sie leisten damit einen wichtigen Dienst an den Kindern und Jugendlichen. Sie werden nicht bloß informieren, sondern gegebenenfalls provozieren und zu eigenen Antworten herausfordern. Damit sichern Sie eine Erziehung und Bildung, die mehr sein will als Leistung und Heranbildung eines „Homo Oeconomicus“ – eines wirtschaftstauglichen Menschen. Wenn wir heute im digitalen Zeitalter die großen Chancen sehen, die im technischen Fortschritt liegen, stehen wir dabei aber deutlicher als zuvor vor der Frage, was der Mensch in diesem Prozess sein will, was ein gutes Leben auszeichnet, was Freiheit bedeutet und viele andere Fragen mehr. Allein dass es den Religionsunterricht gibt, scheint mir ein gutes Mittel zu sein, den künftigen Herausforderungen gut begegnen zu können. Denn kein anderes Fach stellt so ausdrücklich die Frage nach der Rolle und dem Auftrag des Menschen in einer sich entwickelnden Welt. Dabei kann Bildung eben nicht allein von Algorithmen gesteuert sein, sondern beruht auf Beziehung, Hinhören, Hinschauen und Interesse am gegenüber und seinen Fragen und Antworten – gerne auch mit dem Risiko menschlicher Fehlerquoten.
So wichtig die Inhalte sein werden, von unschätzbarer Bedeutung ist die Persönlichkeit der Lehrerin und des Lehrers. Ich erinnere mich an die eigene Schulzeit. Im Gedächtnis sind weniger die Inhalte geblieben als die Lehrerpersönlichkeit: das Auftreten, die Glaubwürdigkeit, ob er mich ernst genommen hat, wie sie in Konflikten reagiert hat, wie fair er war, ob sie kompetent und interessiert war. Das gilt selbstverständlich besonders für die Lehrerinnen und Lehrer, die für einen Glauben stehen, der Gott und den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellen will. Der Inhalt ist nicht von der Person des Zeugen und der Zeugin zu trennen. Die Inhalte des Evangeliums werden bei den jungen Menschen nur dann zu arbeiten beginnen, wenn sie von Menschen vertreten werden, die selbst aus dem Evangelium heraus leben, denen es mit dem Glauben an den liebenden Gott ernst ist. Ich lade Sie heute ein, Menschen zu sein, zu werden oder zu bleiben, die in einer persönlichen Freundschaft mit Gott und mit Jesus Christus leben.
Sie werden vom Bischof zu einem kirchlichen Dienst gesandt. Das macht in der heutigen Zeit Ihre Stellung im Kollegium, gegenüber den Kindern, Jugendlichen und Eltern nicht einfacher. Zunächst danke ich Ihnen, dass Sie diesen Mut mitbringen, für eine Kirche zu stehen, die nicht immer das getan hat, was sie predigt. Diese Predigt habe ich am Gedenktag der hl. Katharina von Siena geschrieben (29. April). Diese Heilige des 14. Jahrhunderts hat aus Verantwortung gegenüber der Kirche und ihrem Glauben nicht mit Kritik an Papst und Bischöfen gespart. Eine Heilige, die aus dem Glauben lebt, darf oder muss prophetisch auftreten. Sollten Sie das Bedürfnis zur kritischen Stellungnahme in sich verspüren, tun Sie das! Aber prüfen Sie sich auch, ob Sie dies aus einer Haltung der Liebe zu Gott, den Menschen und auch zur Kirche tun. Das wird Ihr Zeugnis glaubwürdiger und Ihre Kritik konstruktiver machen.
Sie werden gesandt, als Zeuginnen und Zeugen des Evangeliums, in die Welt der Schule, zu vielen Menschen mit unterschiedlichsten Biographien, Talenten und Fragen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie in den Begegnungen viel geben können, aber genau so viel lernen, über Gott, den Menschen, die Welt und das Leben. Von daher kann ich mir nur wenige spannendere Berufe vorstellen als den, zu dem Sie nun gesandt werden.
[1] Friederike Böge, Gläserne Schüler: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 28.04.2019, S. 4.