So will Jesus in uns Hand und Fuß, Herz und Stimme bekommen. So sollen wir beginnen, aus Liebe zu anderen und zu ihm das Kreuz zu tragen.

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf in der Feier vom Leiden und Sterben Christi („Karfreitagsliturgie“) Dom zu Mainz, Karfreitag, 2. April 2021, 15.00 Uhr

Mainzer Dom (c) Bistum Mainz BNichtweiß
Datum:
Fr. 2. Apr. 2021
Von:
Doris Lieven

„Über das Haus David und über die Einwohner Jerusalems werde ich den Geist des Mitleids und des flehentlichen Bittens ausgießen. Und sie werden auf mich blicken, auf ihn, den sie durchbohrt haben.“ Diesen Satz aus dem Buch des Propheten Sacharja (12,10) hat die christliche Tradition als eine Prophezeiung über den gekreuzigten Christus verstanden. Wer auf ihn schaut, soll Mitleid und das flehentliche Bitten lernen. Und dadurch soll sich die Gesellschaft verändern. 

In meiner Zeit in Münster bin ich immer wieder in die Ludgeri-Kirche gegangen. Dort begegnete ich einem besonderen Kreuz, einem besonders eindrucksvollen Gekreuzigten: Dieser gekreuzigte Christus ist ohne Arme. Bei einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg hat Christus beide Arme verloren. Wenn ich vor diesem Kreuz betete, hat mich das sehr angerührt. Denn normalerweise sehen wir ja die Arme des Gekreuzigten weit ausgebreitet, als würde er uns an sich ziehen, als würde er alle Menschen berühren und umarmen wollen. Das kann der Christus an diesem Kreuz nicht. Unter diesem Kreuz steht folgendes Gebet aus dem 14. Jahrhundert: 
„Christus hat keine Hände, nur unsere Hände, um seine Arbeit heute zu tun.
Er hat keine Füße, nur unsere Füße, um Menschen auf seinen Weg zu führen.
Christus hat keine Lippen, nur unsere Lippen, um Menschen von ihm zu erzählen.
Er hat keine Hilfe, nur unsere Hilfe, um Menschen an seine Seite zu bringen.“
Natürlich kann man diesen Text auch falsch verstehen. Gott hat immer mehr Macht und Möglichkeiten als unsere menschlichen. Aber schauen wir genau in die Evangelien: Jesus gibt seinen Jüngern den Auftrag, das Reich Gottes, Jesu Werk in der Welt gegenwärtig zu machen; wie er aus Liebe das Kreuz zu tragen. Er will nicht ohne uns Menschen handeln. Wir sind seine Hände, die Gutes tun, seine Füße, die das Evangelium zu anderen bringen, seine Lippen, durch die er die frohe Botschaft verkündet. Christus ist ohnmächtig, wenn wir uns ihm verweigern und ihn nicht erfahrbar machen. 
Jesus beruft damals die Zwölf, die die Kirche, das neue Gottesvolk, darstellen: Vier Fischer, einen Zöllner, einen politischen Fanatiker, andere, von denen wir außer dem Namen nur wissen, dass es keine herausragend begabten oder gar mutigen Männer gewesen sind. Sie werden Jesu Arme, sie sind seine Füße und sein Mund, ihnen gibt er die Aufgabe, in seinem Namen zu heilen und Gutes zu tun und so ihn gegenwärtig zu setzen. Sie sollen das Kreuz tragen, wie er es getragen hat. Jesus hat sich immer durch Sünder, durch normale Leute, darstellen lassen. So werden Sie, so werde ich beauftragt, Jesus Hand und Fuß, Herz und Stimme zu geben. Über uns, die „Einwohnerinnen und Einwohner“ Jerusalems soll der neue Geist des Mitleids kommen.

Was zeichnete Jesu Umgang mit den Menschen aus? Er hatte keine große Theorie, er ist nicht mit einem theoretischen Seelsorgekonzept oder mit großen Plänen losgezogen. Er hatte offenbar einen Blick für das, was jetzt bei diesem oder jenem Menschen notwendig war. Und dann hat er konkret geholfen. 
Und: er gab umsonst. Er begegnete dem Menschen nicht mit Berechnung, er maß den Wert eines Menschen nicht nach Geld oder Arbeitskraft. Wer auf ihn schaut, soll Mitleid lernen, soll sensibel bleiben für die Not anderer. Denn in Jesus begegnen wir dem leidenden Menschen. Wer auf Jesus, den Gekreuzigten schaut, sieht nicht weg, sondern er stellt sich dem leidenden Menschen, er schaut ihm ins Gesicht. In einem Buch finde ich eine jüdische Legende. Der Rabbi schickt seine Schüler zu den Verwundeten und Aussätzigen vor die Tore der Stadt. Sie sollen dort den Messias suchen und finden. Dieser will erkannt werden. Aber woran kann man ihn erkennen? „Das Zeichen, an dem sie ihn erkennen sollen, ist dieses: Alle anderen umwickeln ihre eigenen Wunden, nur ein einziger umwickelt zuerst die Wunden der anderen. Das ist er, das ist der Messias.“ 
So will Jesus in uns Hand und Fuß, Herz und Stimme bekommen. So sollen wir beginnen, aus Liebe zu anderen und zu ihm das Kreuz zu tragen. Das ist kein Aufruf zur Suche nach dem Leiden, sondern zur Lebensweise, wie sie Christus vorgelebt hat. Wir sollen jeden Tag versuchen, die Not und die Bedürfnisse anderer zu sehen, konkret zu helfen, wo konkrete Probleme anstehen. Wir müssen beginnen, wahrhaftige Menschen zu sein und anderen die Augen zu öffnen, wo jemand falsch läuft, miteinander statt übereinander zu reden. Wir müssen unsere Perspektive ändern, wenn wir den anderen Menschen nicht als gemeinsamen Bruder oder Schwester, sondern als Konkurrenten oder als Zweck für mich sehen. Wir müssen beginnen, ohne Berechnung zu handeln. Das heißt Kreuztragen, darin und bei vielen anderen Gelegenheiten zeigt sich der Geist des Mitleids und des flehentlichen Bittens, auch für andere, von dem der Prophet spricht. 
Christus möchte die Welt berühren, umarmen. Aber: 
Christus hat keine Hände, nur unsere Hände, um seine Arbeit heute zu tun.
Er hat keine Füße, nur unsere Füße, um Menschen auf seinen Weg zu führen.
Christus hat keine Lippen, nur unsere Lippen, um Menschen von ihm zu erzählen.
Er hat keine Hilfe, nur unsere Hilfe, um Menschen an seine Seite zu bringen.
Er hat nur mich, mit den Stärken und den Schwächen. 

 

1T. Halik, Die Zeit der leeren Kirchen. Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens, Freiburg, Basel, Wien 2021, 135

 

Liturgie zum Karfreitag mit Bischof Peter Kohlgraf

Liturgie zum Karfreitag mit Bischof Peter Kohlgraf

Freitag, 2. April 2021 13:50

Musikalische Gestaltung: Vokalquartett der Domkantorei St. Martin, Mainz, und Dr. Markus Krieg, Kantor, unter der Leitung von Karsten Storck. Hinweis: Aufgrund der geltenden Corona-Bestimmungen wurde die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes ohne Proben realisiert.

Technische Realisation: Flo-Service Mainz

c/o: Bistum Mainz 2021

Gottesdienste|Musik|Impulse zu den Kar- und Ostertagen 2021

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