Wir kommen also heute Abend zu ihrem Bild, und tragen alles Leid zu ihr. Zunächst darf ich ihr meine ganz persönlichen Sorgen anvertrauen. Aber dann kommen mir Menschen in den Sinn, konkrete Gesichter, die Leid ertragen, in meiner Familie, in meinem Freundeskreis und unter meinen Bekannten: Menschen mit schweren Erkrankungen, mit Schuld, die sie erdrückt, und vielen anderen Themen. Aber ich möchte den Blick auch weiten auf die vielen Namenlosen, die Gesichter, die mir jeden Tag in den Nachrichten entgegenschauen, und deren Leid ich persönlich manchmal nicht mehr ertragen kann: die Menschen in den Kriegsgebieten, gerade die Kinder, deren Leben zerstört ist, die Menschen auf der Flucht, die Hungernden und viele andere. In diesen Tagen muss ich als Bischof auch erneut an die Opfer denken, denen kirchliche Amtsträger unsägliches Leid angetan haben und auch heute noch antun. Wir lernen heute schmerzhaft, dass es hier mit einigen frommen Worten der Betroffenheit nicht getan ist, dass wir offenbar ganz am Anfang eines Weges stehen, daraus die Konsequenzen zu ziehen.
„Drücke deines Sohnes Wunden, wie du selber sie empfunden, heilge Mutter in mein Herz. Dass ich weiß, was ich verschuldet, was dein Herz für mich erduldet, gib mir teil an deinem Schmerz“ (4. Strophe). Nachdem ich mein Leid an Maria gegeben habe, muss ich nun selbst ein Mensch mit einem verwundeten Herzen werden, das Platz hat für das Leid anderer und Platz hat für ein Nachdenken über meinen ganz persönlichen Anteil am Leiden anderer Menschen. Wer zur schmerzhaften Mutter betet, wer sich in ihre Situation hineinmedititiert, wird und bleibt leid-sensibel. Wie schnell kann es dazu kommen, dass man die vielen Bilder in den Nachrichten gar nicht mehr an sich heranlassen will. Ich werde schnell hart im Urteil über andere Menschen: „Die sind doch selbst schuld“. Die harten, lieblosen Debatten in der politischen Landschaft über Menschen auf der Flucht erreichen uns doch auch täglich, und nicht wenige sprechen eine lieblose Sprache oder werden gewalttätig gegenüber Fremden. Gefährlich wird es, wenn bestimmte Gruppen mit falschen Informationen und Emotionen anderer spielen, um andere Menschen fertig zu machen. Natürlich müssen wir in den anstehenden Fragen nach politisch tragfähigen Lösungen suchen, die nicht einfach auf der Hand liegen. Aber sobald ein Mensch bedroht ist an Leib und Leben, ist es menschliche Pflicht, ihm zu helfen. Nehmen wir ernst, dass wir alle Menschen als Ebenbilder Gottes bezeichnen und das Antlitz des Schöpfers in ihnen sehen, und auch das leidende Antlitz Christi. Das ist ja kein frommer Zuckerguss, sondern Messlatte für mein Denken, Reden und konkretes Handeln. Ja, und ich trage nicht selten Schuld am Leid anderer. Als Bischof muss ich die Verantwortung übernehmen für kirchliches Versagen und darf die Opfer nicht abhaken. Wie das gehen kann, treibt mich um, weil auch hier markante Sprüche nicht helfen. In vielen Themen bin ich schuldig geworden, ich habe Menschen Leid verursacht, in Gedanken, Worten und Werken, ich habe nicht hingeschaut, sondern das Gute unterlassen. Das wird mir im Gebet vor dem Marienbild deutlich. Wer hier vor dem Bild Marias betet, weicht der Frage nach der eigenen Verantwortung nicht aus, sondern stellt sich ihr und zieht die nötigen Konsequenzen.
Ich werde mir hier meiner Endlichkeit bewusst: „Christus, lass bei meinem Sterben, mich mit deiner Mutter erben, Sieg und Preis nach letztem Streit.“ (5. Strophe) Das Gebet vor der Pieta macht realistisch. Ich verdränge das Leid nicht, sondern teile es mit Maria und denen, die hier mit mir beten. Ich erkenne meine eigene Verantwortung, die ich trage. Als Kirche tragen wir sie auch gemeinsam. Und ich lerne, dass ich nicht ewig Zeit habe. Es ist gut, das nicht zu vergessen. Vieles kann ich dann nicht auf die lange Bank schieben. Ich muss jetzt beginnen, mein Leben zu ordnen, Dinge anzugehen, Beziehungen zu klären. Ich habe nicht ewig Zeit. Für den pilgernden Gläubigen ist dies jedoch kein bedrohlicher Gedanke. Wenn mein Leib in die Erde gesenkt wird, werde ich wie ein Weizenkorn Frucht bringen, das ist die Hoffnung. Maria übergibt schließlich ihren toten Sohn dem Grab, aus dem er auferstehen wird. Am Ostermorgen leuchtet die Sonne der Unsterblichkeit, der Stein ist weggerollt, das Weizenkorn trägt reiche Frucht. Das erhoffe ich auch für mich. Ich bin dankbar für das Bild der Hoffnung, das uns heute vor Augen steht. Alle Wirklichkeit der Welt und meines Lebens hat hier Platz, mit einer großen, unsterblichen Hoffnung.
Predigt von Bischof Peter Kohlgraf
beim Pontifikalamt anlässlich der Großen Wallfahrt in Dieburg
Außenaltar Gnadenkapelle, Wallfahrtskirche, Dieburg,
Freitag, 7. September 2018, 19.00 Uhr