Türen öffnen, einladen zum Aufbruch und zur Gastfreundschaft

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Pontifikalamt zur Eröffnung des Heiligen Jahres im Dom zu Mainz am 29. Dezember 2024

Mainz, 29. Dezember 2024: Bischof Peter Kohlgraf bei seiner Predigt zur Eröffnung des Heiligen Jahres im Mainzer Dom. (c) Bistum Mainz / Blum
Datum:
So. 29. Dez. 2024
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Papst Franziskus stellt zwei Themen über dieses Jahr: das Pilgern und die Hoffnung. Er hat allen Diözesen der Weltkirche aufgetragen, diese Motive in diesem Jahr zu gestalten: wir sollen „Pilger der Hoffnung“ sein, vielleicht sogar erst zu solchen werden. 

„Das geschieht nur alle Jubeljahre“ – viele derartige Sprichwörter sind der Heiligen Schrift entnommen. Das Buch Levitikus (25,10) fordert alle 50 Jahre ein besonderes Jahr, in dem aus Not verschuldetes Eigentum wiedergegeben wird und Schuldsklaven entlassen werden, also Menschen, die aus materieller Not in die Sklaverei gekommen sind. 
Die katholische Kirche übernimmt diesen Auftrag ausdrücklich ab dem Jahr 1300, das als „Jubeljahr“ gefeiert wurde. Ich könnte hier viel über die alttestamentlichen Grundlagen sagen, aber notwendig ist der soziale Gedanke. Eigentum zu besitzen ist immer mit sozialer Verantwortung verbunden, es dient nie allein dem eigenen Nutzen. Das „Jobeljahr“ – „Jubeljahr“ erinnert nicht nur daran, es lässt bei den Gläubigen diesen Gedanken konkret werden.

Natürlich stand immer auch das Nachdenken über die Beziehung zu Gott und der daraus abgeleiteten Verantwortung des Menschen für den Nächsten und die Schöpfung hinter der geübten Praxis. Aus dem 50-Jahresabstand wurde im Laufe der Kirchengeschichte ein Abstand von 25 Jahren. So hat Papst Franziskus am Heiligen Abend 2024 mit der Öffnung der sogenannten Heiligen Pforte in Rom das Heilige Jahr 2025 symbolisch eröffnet.

Papst Franziskus stellt zwei Themen über dieses Jahr: das Pilgern und die Hoffnung. Er hat allen Diözesen der Weltkirche aufgetragen, diese Motive in diesem Jahr zu gestalten: wir sollen „Pilger der Hoffnung“ sein, vielleicht sogar erst zu solchen werden. 
In seiner Ankündigung zum Heiligen Jahr macht sich der Papst zunächst Gedanken über das Pilgern. Zunächst denkt er natürlich über die Pilgerinnen und Pilger nach, die demnächst nach Rom kommen werden. Darüber hinaus geht es aber um mehr. Pilgern ist nicht erst seit Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“ über seine Erfahrungen auf dem Jakobsweg eine zeitgemäße und beliebte Form der Suche nach einem Geistlichen Leben: „Das Pilgern ist in den vergangenen Jahren ein vielbeachtetes Phänomen – sei es in Büchern, die es bis auf die Bestsellerlisten schaffen, in Filmen, Ausstellungen oder einschlägigen wissenschaftlichen Studien. 
Das Interesse am Jakobspilgerweg ist weiterhin ungebrochen, die Pilgerzahlen gehen nach der Corona-Unterbrechung wieder deutlich nach oben, und die Pilger werden immer internationaler. Neben die alten treten neue Pilgerwege, die auch das Interesse von nichtkirchlichen Anbietern auf sich ziehen.“ So fasst es eine Arbeitshilfe der Deutschen Bischöfe aus dem Jahr 2024 zusammen. Vor Monaten haben wir zusammen mit der Diözese Rottenburg-Stuttgart den Martinusweg als Pilgerweg eröffnet, zudem gibt es in unserem Bistum den Bonifatius-Pilgerweg. 
Und weiter heißt es im Text der Bischöfe: „Dabei ist Sinn- und Identitätssuche eines der Motive, warum sich Menschen auf einen Pilgerweg begeben. „Wo stehe ich, und wo will ich hin?“, sind Fragen, die viele auf ihrem Pilgerweg begleiten.“

Das Heilige Jahr unter dem Motiv des Pilgerns lädt ein, sich diesen Themen zu stellen. Man muss sich nicht nach Rom aufmachen, um sich als Pilgerin oder Pilger in dieser Welt zu verstehen. Der Papst selbst macht auf Kennzeichen des Pilgerns aufmerksam: Pilger oder Pilgerin wird man durch das Suchen nach Stille und die Konzentration auf das Wesentliche. Auch Anstrengung gehört dazu. Wer pilgert, rechnet mit dem Unerwarteten, er braucht Gemeinschaft und wird damit rechnen müssen, Hilfe anderer Mitpilgernder in Anspruch zu nehmen. Das Heilige Jahr lädt uns also ein zu Stille und Gebet. Wir sind aufgerufen, unsere Beziehung zu Gott zu überdenken und neue Wege zu gehen – die Bibel nennt dies „Umkehr“. Wir sind eingeladen, Gemeinschaft neu zu gestalten, das Miteinander und nicht das Gegeneinander zu leben, denn dann könnten wir den Weg nicht gehen.

Auf unserem Pastoralen Weg im Bistum sind wir derzeit viel mit Strukturfragen befasst, sie lassen sich nicht umgehen. Ich hoffe aber auf die Impulse des Heiligen Jahres, dass wir die Veränderungen in einer geistlichen Weise angehen. Die Frage nach dem, was für uns wesentlich ist, müssen wir gemeinsam bearbeiten, und zu Recht betont der Papst, dass derartige Pilgerthemen anstrengend sind. Ich wünsche mir für unsere gemeinsamen Pilgerwege das Vertrauen, dass wir begleitet sind, dass wir offen bleiben für Unerwartetes, dass wir Gemeinschaft fördern. Das gilt für alle Ebenen unseres Bistums wie auch für unsere Beziehung zur Weltkirche. 
In den derzeitigen „Synodalen Prozessen“ lernen wir, dass gemeinsames Pilgern anstrengend ist, Zeit braucht, und dass Entscheidungen, die gemeinsam getroffen werden, neue Haltungen des Miteinanders erfordern und nicht Konkurrenz oder ein Gegeneinander, das auch in der Kirche oft stilbildend war und ist. 
Auf dem Weg brauchen wir einander, die Lebens- und Glaubenserfahrungen der anderen. Vor Jahren schon hat Papst Franziskus die Tatsache beschrieben, dass Menschen eher Sicherheit suchen als das gemeinsame Aufbrechen und Unterwegssein. Von Seiten der Heiligen Schrift und unserem kirchlichen Selbstverständnis bleibt uns der Aufbruch und die Pilgerschaft nicht erspart; dies jedoch unter dem Motiv der Hoffnung. 
Der Papst sieht den wohl wichtigsten Auftrag der Gläubigen, Hoffnung zu leben und weiterzugeben. Dazu gibt er uns einige Hinweise. Zunächst müssen wir selbst lernen, manche Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit und Verzagtheit angesichts der Situation in der Welt und in der Kirche Gott anzuvertrauen. Mit Gott haben Menschen immer Zukunft, das ist der Grund unserer Hoffnung. Christinnen und Christen sollen Menschen sein, die sich nicht von Angst und Verzweiflung leiten lassen. Wenn Greta Thunberg vor Jahren ihre Motivation zur Rettung der Umwelt beschrieb mit: „Ich will, dass ihr Angst habt“, dann müsste ich als Christ dagegensetzen: „Ich will und kann etwas verändern, weil ich Hoffnung habe“. Ich glaube, etwas bewirken zu können, weil ich die Schöpfung und die Menschen liebe, nicht aus Angst und Verzweiflung. 
Ich empfinde den Ansatz der Hoffnung als wesentlich zielführender als den Aspekt der Angst oder der Panik angesichts der Weltentwicklung. Papst Franziskus spricht von einer „begeisterten Lebenseinstellung“ der Glaubenden. Sie wollen Leben weitergeben in der Vielzahl der Möglichkeiten.

Er erinnert an die sieben Werke der Barmherzigkeit, die Hoffnung in die Welt bringen. Zunächst an die leiblichen Werke: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Tote bestatten; und an die geistlichen Werke: Unwissende lehren, Zweifelnde beraten, Trauernde trösten, Sünder zurechtweisen, Beleidigern verzeihen, Lästige geduldig ertragen, für Lebende und Verstorbene beten. 
Darin liegen so viele Möglichkeiten, auch im kleinen persönlichen Umfeld Hoffnung zu geben in einem Heiligen Jahr und darüber hinaus. Der Papst erinnert an die Jugend, die Senioren, die Einsamen, die Migranten, die Kranken und alle Menschen am Rande der Gesellschaft, die wir Arme nennen. Wir haben so viele Möglichkeiten, ihnen Hoffnung zu geben. 
Es gibt für den Papst zwei Motivationen, so zu leben. Die erste ist der Glaube an den lebensspendenden und menschenfreundlichen Gott, die zweite der Blick auf die Wirklichkeit, wie viele Menschen täglich dieses Gute leben oder es wenigstens versuchen. Er lädt ein zu einem positiven Blick auf das viele Gute in dieser Welt.

Für alle diese Gedanken steht symbolisch die offene Tür. Sie steht für Aufbruch und Wagemut, sie steht für das offene Herz anderen Menschen gegenüber. Das Heilige Jahr soll unseren Blick schärfen für das, was wir tun können. Und das darf nicht nur alle „Jubeljahre“ einmal Wirklichkeit werden, sondern christlicher Stil.

Immer wieder ist auch vom Ablass die Rede, für viele ein schwieriger Gedanke. Ich will es für mich kurz so verstehen: Das Tun des Guten ist eine Antwort auf meinen Glauben an den barmherzigen Gott. Er will das Leben, nicht den Tod. Ich verdiene mein ewiges Leben nicht durch gute Werke, aber ich will auf seine Liebe antworten durch das, was ich an Gutem tun darf und kann. Dann wird er auch nicht strafen, sondern mich und alle mir verbundenen Menschen mit offenen Armen empfangen. 
Zum Heiligen Jahr gehört so die Umkehr, die Neuorientierung.

Möge dieses Jahr neue Gemeinschaft ermöglichen, zwischen Gott und zwischen Menschen. Möge es Türen öffnen, einladen zum Aufbruch und zur Gastfreundschaft. 
Ein Heiliges Jahr ist dann ein gesegnetes Jahr.