„Wir werden euch nie vergeben“. Diese Reaktion von Menschen aus der Ukraine war in den vergangenen Monaten immer wieder in den Zeitungen zu lesen. Ich erinnere mich an die Aussage eines Politikers und eines Schriftstellers, die wohl für viele Menschen sprechen. Aus der jetzigen Situation heraus habe ich das moralisch nicht zu werten. Denn natürlich gibt es keinen Anspruch auf Vergebung angesichts unbeschreiblicher Kriegsverbrechen, besonders gegen die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur eines Landes. Und dennoch lässt mich eine solche Aussage erschaudern. „Wir werden euch nie vergeben“ – wie soll dann die Welt in den nächsten Jahrzehnten gestaltet werden, wie kann es eine Zukunft geben?
Heute im Gottesdienst am Weltfriedenstag stehen natürlich die Situation in der Ukraine und die vom Krieg betroffenen Menschen in den Blick. Papst Franziskus hat vor Diplomaten in Rom jüngst von einem dritten Weltkrieg gesprochen, die Lage ist mehr als ernst. Kriegsherde gibt es überall, an viele haben wir uns gewöhnt. Die Ukraine ist uns natürlich besonders nahe. Menschenrechtsverletzungen sind weltweit Ursache für Gewalt vielerlei Art. In Afghanistan ist keine friedliche Gesellschaft in Sicht, im Iran werden Menschen verhaftet, gefoltert und mit dem Tode bedroht wegen des grotesken Vorwurfs „Krieg gegen Gott“, ein deutscher Journalist sitzt in Haft wegen des Vorwurfs „Korruption auf Erden“. Das sind nur die Konfliktherde, die derzeit durch unsere Medien gehen, von anderen hört man schon gar nichts mehr. Überall auf der Welt könnte das Motto gelten: „Wir werden euch nicht vergeben.“ Und dann? Bei allem Verständnis, ein Erschaudern bleibt.
Allerdings darf ich auch darauf hinweisen, dass auch vom Evangelium her dauerhafter Frieden immer eine Folge von Gerechtigkeit ist. Vergebung heißt ja nicht, den Mantel des Schweigens über Verbrechen zu decken, sondern Gerechtigkeit herzustellen. Es entspricht dem Evangelium, wenn Kriegsverbrecher Verantwortung übernehmen müssen für ihre Taten, wenn den Opfern größtmögliche Gerechtigkeit widerfährt, wenn eine internationale Gemeinschaft um die Einhaltung internationalen Rechts bemüht ist. Vergebung heißt nicht Vertuschung oder Ignoranz.
Es gibt bewegende Beispiele, wo Gerechtigkeit und Vergebung eine überzeugende Form angenommen haben. Der anglikanische Bischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu und seine Tochter Mpho Tutu beschreiben in einem Buch die Erfahrungen aus den Versöhnungsprozessen nach dem Ende der Apartheid in Südafrika. 1 Wer dieses Buch liest, lernt dort beeindruckende Beispiele von Personen kennen, die großes Leid und Unrecht erlitten haben, und die menschliche Größe und Freiheit dadurch zeigen, dass sie selbst denjenigen Tätern zu vergeben bereit sind, die keinerlei Reue oder Willen zum Versuch einer Wiedergutmachung zeigen. In den gesammelten Beispielen wird der Verdacht entkräftet, Vergebung würde Schuld unter den Teppich kehren wollen, oder sie stehe gegen eine Herstellung von Gerechtigkeit. Folterknechte erhielten ihre gerechte Strafe, Schuld wurde klar benannt und geahndet, und daneben schlossen Opfer des Unrechts ihren persönlichen Frieden mit denen, die Leid verursacht haben. Vergebung zu schenken stellt Desmond Tutu als Ausdruck höchster Freiheit und menschlicher Stärke dar. Sie wird noch einmal umso kraftvoller, je weniger die Person, die verletzt hat, sich auf eine Versöhnung einlassen will. Die Personen, die hier vergeben, sind keine Duckmäuser, leben keine falsch verstandene christliche Demut. In den Beispielen wird ein oft aus der Ferne eher abstrakt wahrgenommenes Phänomen zu einem persönlichen Lebensthema von Menschen. Allein theoretisch bleibende Vergebungsbereitschaft gibt es nicht, bzw. hat keinen Wert. Biblische Verkündigung wird erst dann fruchtbar, wenn sie Menschen Hilfestellungen anbieten kann, Vergebung und Versöhnung wirksam praktisch werden zu lassen. Wenn religiöse und christliche Glaubensinhalte hierzu einen Dienst leisten können, dann haben sie einen Wert für den Menschen. Dabei hat jemand auch das Recht zu sagen: „Ich kann (noch) nicht vergeben. Ich brauche noch Zeit“. Oder jemand kann es nicht. Christliche Verkündigung wäre hier schlecht beraten, Vergebung aufgrund moralischen Drucks oder aus einer bestimmten Frömmigkeitshaltung heraus zu fordern. Menschen, die sich ihrem Groll und einer tiefen Verletzung ehrlich stellen, verdienen Begleitung und ein offenes Ohr. Der französische Journalist Antoine Leiris verliert bei den islamistischen Attentaten in Paris im November 2015 seine Frau Hélène, und bleibt mit ihrem gemeinsamen Sohn Melvil allein zurück. Er schreibt ein Buch, in dem er seine Erfahrungen und seine Trauer in eindringlichen Worten schildert. In der deutschen Übersetzung trägt das Buch den Titel „Meinen Hass bekommt ihr nicht“. In diesem Buch findet sich auch ein an die Täter gerichteter Text:
„Freitag Abend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Ich weiß nicht, wer ihr seid, und ich will es nicht wissen, ihr seid tote Seelen. Wenn der Gott, für den ihr blind tötet, uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat, dann muss jede Kugel, die den Körper meiner Frau getroffen hat, eine Wunde in sein Herz gerissen haben. Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen. Auch wenn ihr es darauf angelegt habt; auf den Hass mit Wut zu antworten würde bedeuten, derselben Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid. Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger misstrauisch beobachte, dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere. Verloren. Der Spieler ist noch im Spiel. (…) Wir sind zwei, mein Sohn und ich, aber wir sind stärker als alle Armeen der Welt. Ich will euch jetzt keine Zeit mehr opfern, ich muss mich um Melvil kümmern, der gerade aus dem Mittagsschlaf erwacht ist. Er ist gerade mal siebzehn Monate alt; er wird seinen Nachmittagssnack essen wie jeden Tag, dann werden wir zusammen spielen, und sein ganzes Leben lang wird dieser Junge euch beleidigen, weil er glücklich und frei ist. Denn nein, auch seinen Hass bekommt ihr nicht.“ 2
Es findet keine Versöhnung mit den Tätern statt, doch der Verzicht auf Hass und Rache ist sicher ein starker Schritt in eine versöhnte Zukunft dieses Vaters und seines Sohnes. Er sieht den Zusammenhang zwischen Groll und Hass und einem daraus erwachsenden unglücklichen Leben. Die unsagbar große Trauer bleibt, aber den Tätern wird nicht zugestanden, das Leben weiter zu vergiften. Der Mann trifft eine aktive Entscheidung. Seine „Strategie“, mit seiner Situation umzugehen, besteht in der bewussten Entscheidung und der gelebten Zuwendung zu seinem Sohn, mit dem er seine Liebe und seinen Alltag teilt. Ein starkes Zeugnis für die Möglichkeiten, die im Menschen stecken, sein Leben aktiv positiv auszurichten, trotz starker Verletzung und nicht wiedergutzumachender Erfahrung des Bösen durch namenlose Täter.
„Wir werden euch nie vergeben“ – es steht die Frage im Raum: Kann es nicht ein Weg sein, sich das Leben nicht durch den Hass vergiften zu lassen? Ich vermute, dass wir über derartige Fragen in Zukunft werden reden müssen. In diesem Jahr gedenken wir der Gründung von pax christi vor 75 Jahren. Damals waren es wichtige Schritte, ehemalige „Erbfeinde“ zusammenzubringen, mit großem Erfolg. Frankreich und Deutschland sind Partner geworden, bis heute denken wir mit Dankbarkeit an die Schritte, die Polen und Deutschland aufeinander zu gingen und an denen wesentlich die polnischen Bischöfe beteiligt waren. Was wäre entstanden, wenn sie gesagt hätten: „Wir werden euch nie vergeben“? Es stimmt heute traurig, wenn das Friedensprojekt Europa immer mehr infrage steht, das kann nicht die Zukunft sein. Es wird auch in Zukunft Menschen brauchen, die sich nicht durch Rache und Hass bestimmen lassen, sondern durch das Bemühen um Gerechtigkeit und Versöhnung.
In diesen Tagen beten wir um Frieden, wir wollen unterstützen und bedrängten Menschen helfen. Aber ich will die Frage stellen: Wollen wir uns unsere Zukunft durch Hass und den Gedanken der Rache vergiften lassen? Haben dann nicht die Verbrecher gewonnen? Wir werden schwere Wege gehen, in Gegenwart und Zukunft. Als Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu sollten wir aber immer wieder Finger in Wunden legen und die richtigen Fragen stellen.
1Desmond Tutu und Mpho Tutu, Das Buch des Vergebens. Vier Schritte zu mehr Menschlichkeit, Berlin 2014.
2Antoine Leiris, Meinen Hass bekommt ihr nicht, München 2016, 59-61.