„Wären Sie nicht lieber Bischof im 19. Jahrhundert gewesen?“

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Pontifikalamt anlässlich der Wallfahrt zu Ehren der heiligen Märtyrer Petrus und Marcellinus Seligenstadt, Basilika am 3. Juni

Datum:
So. 3. Juni 2018
Von:
Bischof Peter Kohlgraf
„Wären Sie nicht lieber Bischof im 19. Jahrhundert gewesen?“ – so fragte mich bei einem Dekanatsbesuch ein Journalist. Dahinter steht wohl ein Bild des 19. Jahrhunderts, in dem die Kirche und die Bischöfe in sicherem Fahrwasser gewesen seien. Der Blick auf den Mainzer Bischof Emmanuel von Ketteler (Bischof von Mainz 1850-1877) zeigt uns eine andere Wirklichkeit.


Es war die schwierige Zeit des Kulturkampfes, und die Bischöfe dieser Zeit beklagen den modernen Rationalismus, sie setzen sich mit dem Liberalismus, Kommunismus und Kapitalismus auseinander. Politische Debatten und wissenschaftliche Erkenntnisse verunsicherten viele Gläubige. Auch durch die Stärkung der Wallfahrt hier in Seligenstadt zu den Heiligen Marcellinus und Petrus wollte Bischof Ketteler (und später sein Nachfolger) den manchmal orientierungslosen Katholiken Vorbilder geben, die in einer viel schlimmer bedrängten Lage zu Christus gestanden haben. In den Märtyrern der frühen Kirche, zu denen die beiden Heiligen zählen, begegnen uns Menschen einer kirchlichen Epoche, vor der wir auch heute noch staunend und ehrfürchtig stehen können. Bedrängnis, Rechtsunsicherheit und Verfolgung haben der Kirche damals nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Der frühchristliche Theologe Tertullian macht die erstaunliche Aussage: „Das Blut der Märtyrer ist der Samen für neue Christen“.
Tatsächlich lässt sich staunend wahrnehmen: Aus dem kleinen Häuflein in Jerusalem wird eine Weltkirche, trotz (oder gerade wegen?) vieler Schwierigkeiten. Denn es stimmt, die Geschichte der jungen Kirche ist in allen Schwierigkeiten der Anfeindungen auch von außen eine unglaubliche Erfolgsgeschichte.
Kirchenhistoriker sind der Frage nachgegangen, woran dies gelegen hat. Und sie haben Antworten auf diese Frage gegeben. Warum wird aus dem kleinen Häuflein eine Weltkirche?
Die Christen hatten ein klares, eindeutiges Glaubensbekenntnis. Die Zeit der ersten Christen im römischen Weltreich war durch eine große Vielfalt geprägt. Unterschiedlichste Götter hatten Platz, da hätte auch irgendwie Christus einen Ort gefunden. Aber damit geben sich die Christen nicht zufrieden. Er ist kein Göttersohn neben den vielen anderen, sondern der einzige Erlöser, der eingeborene Sohn Gottes, wie sie formulieren. Weil Christen an ihn glauben, dürfen sie anderen Göttern nicht opfern. Da war es mit der scheinbaren Toleranz der Gesellschaft schnell vorbei. Das ist heute nicht anders. Also könnte man vermuten, die christliche Botschaft habe alle abgestoßen. Und hier kommt etwas ganz Erstaunliches zutage. Das klare Bekenntnis zu einem Gott, das klare christliche Glaubensbekenntnis hat Menschen nachdenklich gemacht. Auf Dauer ist es zu wenig, wenn der Glaube kein eindeutiges Fundament hat. Glaube muss sich letztlich auf dem Sterbebett bewähren. Und hier half einem kein Zeus und kein Götterhimmel, sondern nur ein Glaube an einen Gott, der den Tod für und Menschen besiegt hat. Genauso wie mir einst keine der vielen heute selbstgemachten Wahrheiten helfen wird. Der christliche Gott hat Profil, er ist verbindlich, aber damit auch ernst zu nehmen. Wo alles gleich wahr ist, nehme ich gar nichts mehr ernst. Es hat damals Menschen fasziniert, dass es Gläubige gab, die ihnen den einzigen Erlöser gezeigt haben. Später kam noch hinzu, dass sich dieser christliche Glaube dem vernünftigen Gespräch stellte. Man ging keiner vernünftigen Auseinandersetzung aus dem Weg. Und viele Denker stellten fest, dass das Christentum gute Argumente hat. Die frühchristlichen Märtyrer und auch die Blutzeugen unserer Zeit fragen uns an, ob wir zu diesem Jesus Christus als der Wahrheit für alle Menschen stehen können.
Und damit kommt der zweite Erfolgsgrund: Es hat Menschen fasziniert, dass es Gläubige gab, die lieber ihr Leben hingaben, als die Wahrheit zu verraten, als Gott zu verraten. Wenn ich Christus einmal als meinen Erlöser erkannt habe, als Erlöser aller Menschen erkannt habe, dann wäre mein Leben ohne ihn nichts wert. Christliche Märtyrer haben vor ihren römischen Richtern erklärt, dass sie den Tod einem Leben ohne Wahrheit vorziehen, für uns schon eine anstößige Formulierung. Aber ist es so abwegig zu behaupten, dass auch heute das Leben ohne eine wirkliche Wahrheit, einen tragfähigen Lebensinhalt, ohne einen Halt, ohne Vertrauen und Liebe dem Menschen nicht gerecht wird? Christliche Wahrheit ist eine Person, die mich liebt, die alle Menschen liebt, die aber auch auf ungeteilte Gegenliebe wartet. Wenn sich also damals jemand taufen ließ, musste er sein Leben wirklich ändern. Christsein bedeutet, Christus, die Wahrheit zu kennen, die das ganze Leben bestimmen will. Mit ganzem Herzen, mit ganzem Verstand und ganzem Willen soll ich Gott lieben, und meinen Nächsten wie mich selbst.
Und es gibt einen dritten Grund für den Erfolg der jungen Kirche. Die Christen hatten ein Herz für die Menschen am Rand. Bei ihnen wurde nicht nur über Liebe gesprochen, sondern Liebe praktiziert, und zwar nicht gegenüber denen, die ohnehin sympathisch sind, sondern gegenüber allen, die in der Gemeinde auftauchten. Die Armen erfuhren eine Wertschätzung, die sie ansonsten nirgendwo erleben konnten. Die Caritas gehört seit Beginn zu den Wesensvollzügen der Kirche. Sie ist die konkrete Lebensantwort eines jeden getauften Menschen auf die Erfahrung der Liebe, die ihm geschenkt ist in der Lebenshingabe Christi.
Christus in einer vielfältigen Welt als den einzigen Erlöser zu verkünden, Auskunft geben zu können, über die Hoffnung, die Christen trägt, deutlich zu machen, dass wir Christus lieben und dies in der Nächstenliebe zu verwirklichen – all das hat Menschen angezogen. So etwas geht nur über Zeugen, über Menschen, die die Hirtensorge Jesu teilen. Kommen wir auf die Frage zurück, ob ein kirchliches Leben im 19. Jahrhundert einfacher gewesen sei? Sie ist schwer zu beantworten. Aber heute gilt wie damals, zu Zeiten des Marcellinus und des Petrus und zur Zeit Bischof von Kettelers die Herausforderung gleichermaßen, sich klar zu Jesus Christus zu stellen und sein Evangelium zu bezeugen, in Tat und Wort seine Hingabe nachzuvollziehen und in der konkreten Nächstenliebe Antwort zu geben auf seinen Ruf. In unserer Zeit sind nicht wenige Christen in einer schweren Verfolgungssituation. Sie erwarten vielfach unsere Solidarität und die Aufmerksamkeit für ihr Schicksal. Sie fragen aber auch jeden und jede Einzelne von uns an, wie wir es mit der Konsequenz unseres christlichen Lebens halten. So wie die Christen zu allen Zeiten, müssen wir uns in der Vielfalt der Stimmen und Meinungen orientieren. Die Heiligen sind da wohl wirklich gute Vorbilder und Ratgeber.