„Warum weinst du, wen suchst du?“

Predigt beim Pontifikalamt am Hochfest Auferstehung des Herrn Dom zu Mainz, Ostersonntag, 31. März 2024, 10.00 Uhr

Ostern Sakristei Mainzer Dom (c) Bistum Mainz / B. Nichtweiss
Datum:
So. 31. März 2024
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Wo ein Mensch weint, bleibt der Auferstandene in rätselhafter Weise ganz nahe. Wo ein Mensch eine Sehnsucht nach Gemeinschaft, Freundschaft und dauerhafter Liebe hat, bleibt der Auferstandene mit tiefem Interesse bei ihm. Ich darf auch mich ansprechen lassen: „Warum weinst du, wen suchst du?“, Du, Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz. 

„Frau, warum weinst du?“ – will der Mann wissen, den Maria von Magdala für den Gärtner hält. Er muss doch wissen, was geschehen ist und wer dort im Grab liegen soll. Der heilige Augustinus als einer der großen frühchristlichen Theologen hat sich darüber Gedanken gemacht.[1] Noch stärker als die Trauer über den gewaltsamen Tod scheint die Trauer darüber zu sein, dass es noch nicht einmal mehr den Leichnam, d.h. die Erinnerung an ihren Freund gibt. Er ist tot und endgültig weg. Daher bleibt sie am Ort des Grabes. Das Grab ist der einzige Ort, der sie noch an Jesus erinnert. Kein einziges Erinnerungszeichen bleibt zurück. Dieser geliebte Mensch ist endgültig fort. Bereits die beiden Engel im Grab hatten die gleiche Frage gestellt: „Frau, warum weinst du?“ Es gab keinen Ort der Trauer für sie, keine Hoffnung, keine berührbare Erinnerung, die sie ins Leben mitnehmen konnte. Jesus gibt sich Maria zu erkennen und sie darf ihn nicht berühren, weil er zum Vater geht. Dort wird er immer für die Menschen da sein. Das Johannesevangelium hält dies für einen stärkeren Begegnungsort als das Grab und die körperliche Berührung. Er bleibt bei den Menschen, indem er zum Vater geht. 

Augustinus nennt als stärksten bleibenden Berührungspunkt zwischen dem auferstandenen und Maria von Magdala die Liebe. Diese Frau habe eine stärkere Liebe zu Jesus gehabt als die Männer, die dann wieder vom Grab weggehen. Diese wenigen Hinweise geben uns eine Ahnung davon, dass Auferstehung nicht einfach bedeutet, ins irdische Leben zurückzukehren. Jesus lebt nicht einfach so weiter, er geht in eine neue Nähe zu den Menschen, die nur die Person ahnen kann, die ihm in Liebe und Freundschaft verbunden ist. Maria wird zur ersten Botin der Auferstehung und des neuen Lebens. Die Apostel lernen den Glauben von ihr, der Frau, die mehr lieben konnte als sie. Papst Franziskus erinnert an den alten Titel für diese Frau: Sie ist die „Apostolin der Apostel“. Die Apostel lernen von ihr den Glauben. Das sollte uns auch heute in der Kirche zu denken geben. 

„Frau, warum weinst du?“ – es sind nicht nur Tränen der Trauer, sondern auch Tränen der Sehnsucht[2]. Jesus sagt nicht einfach: „Hör auf zu weinen!“ – er will ihr zuhören, ihr nahe sein, und „teilhaben an dem, was sie durchlebt.“[3] Er nimmt ihre Tränen, ihre Sehnsucht, ihre Freundschaft und Liebe an. Wo ein Mensch weint, bleibt der Auferstandene in rätselhafter Weise ganz nahe. Wo ein Mensch eine Sehnsucht nach Gemeinschaft, Freundschaft und dauerhafter Liebe hat, bleibt der Auferstandene mit tiefem Interesse bei ihm. Ich darf auch mich ansprechen lassen: „Warum weinst du, wen suchst du?“, Du, Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz. Ich muss diesen Freund an meiner Seite nicht bei den Toten suchen, am Grab in Jerusalem. Ich darf ihn an meiner Seite wissen. Er hat Interesse an meiner Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft. Sie alle dürfen sich persönlich angesprochen wissen. Und wir hören auch die Frage des Auferstandenen und der Engel: „Menschheit, warum weinst du?“ Die Menschen in der Ukraine, die vielen Trauernden dort und auch in Russland, die Trauernden in Gaza und Israel sind Teil dieser weinenden Menschheit. Wie viele Tränen werden auf dieser Erde geweint, von Menschen in den Kriegsgebieten, den Hungernden, den Geflüchteten und so vielen anderen. Die Frage des Auferstandenen und der Engel ist nicht zynisch gemeint, als stünde er über diesem Leid. Er will in die Geschichte der vielen Menschen eintauchen, ihre Trauer, in ihren Schmerz und vielleicht auch in ihre bleibende Hoffnung. Er trägt ja noch die Wundmale, das Leid der Menschen hat er nicht vergessen. 

In einem Buch, aus dem ich Gedanken für diese Predigt entnommen habe, finde ich einen schönen Gedanken: „Die himmlischen Archive sind nicht gefüllt mit den Sünden der Menschen; vielmehr werden dort ihre Tränen aufbewahrt.“[4] Gott speichert nicht unsere Sünden, sondern unsere Tränen, unsere Sehnsucht, unser Suchen nach Freundschaft, Liebe und Frieden. Am Ende wird es geschehen, wie es in der Schrift heißt: „Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.“ (Offb 21,4f.). Was sich hier im letzten Buch des Neuen Testaments findet, ist bereits die große Friedenshoffnung des Propheten Jesaja: „Er (Gott) verschlingt auf diesem Berg die Hülle, die alle Völker verhüllt, / und die Decke, die alle Nationen bedeckt. Er hat den Tod für immer verschlungen / und GOTT, der Herr, wird die Tränen von jedem Gesicht abwischen.“ (Jes 25,7f.). Das ist meine letzte und wichtigste österliche Hoffnung: Die Tränen sind gezählt, am Ende werden sie abgewischt und es wird Leben und Freude in Fülle geben. Jesaja verbindet damit sogar die Hoffnung auf einen endgültigen Frieden, an dessen Gestaltung wir schon jetzt mitwirken sollten. 

Wer sind eigentlich diese bemerkenswerten Engel im Grab, die genau die gleiche Frage stellen wie Jesus? Könnte es sein, dass wir die Aufgabe dieser Engel übernehmen sollen? Paulus fordert von seiner Gemeinde in Rom, sich mit den Fröhlichen zu freuen und mit den Weinenden zu weinen (Röm 12,15). Es geht um mehr als um Mitleid, wobei es schon viel wäre, wenn wir Jüngerinnen und Jünger Jesu Freuden und Leiden der Menschen wahrnehmen würden. Das würde uns von vielen anderen unterscheiden, die wegschauen oder das Leid beurteilen mit dem Hinweis: selber schuld! Wie der Auferstandene sollen wir die Tränen sehen, die Sehnsüchte wahrnehmen, Menschen begleiten, sie verstehen wollen, nicht weglaufen oder verurteilen. Der auferstandene Christus fragt nicht nach den Ursachen der vielen Tränen, sondern er entsendet uns, um die Ursachen der Tränen zu beseitigen – im Rahmen unserer Möglichkeiten. Das ist der tiefste Sinn, die Kirche als Sakrament zu bezeichnen, als Werkzeug, die Nähe des Auferstandenen zu vermitteln. 

Vor einigen Wochen wurde die Kirchenbindungsstudie veröffentlicht. Neben vielen ernüchternden Tatsachen über das Kirchenbild und die Kirchenbindung der Menschen in unserer Gesellschaft wird aber auch deutlich, dass nicht wenige Menschen von der Kirche —  und das sind nicht nur die Hauptamtlichen, die Priester und Bischöfe — genau diese Nähe und Zuwendung erwarten und zum Teil auch von solchen Erfahrungen berichten. Das österliche Evangelium weist uns als Kirche unmissverständlich darauf hin, dass Jesus nicht irgendeinen Verein gegründet hat, sondern eine Gemeinschaft, die sich vom Auferstandenen aus dem Grab zu den Menschen unserer Zeit senden lässt, die der Zuwendung bedürfen, die sich nach einer Welt sehnen, in der wir die Hoffnung auf Frieden nicht aufgeben, die keinen Menschen als Nummer ansieht, die fähig ist, mitzufühlen, mitzufreuen, notfalls auch Tränen zu trocknen. Das kann ich, das können wir, mit allen Begrenzungen, weil auch unsere Leiden und Freuden vom auferstandenen Christus getragen und in ihm geborgen sind. Ich wünsche uns allen, dass wir Menschen bleiben, die nicht weglaufen, sondern verändern, Menschen der Hoffnung und der Zuwendung. 


 
[1] 120. Vortrag zum Johannesevangelium.
[2] Zum Folgenden entnehme ich die Anregungen aus: Ermes Ronchi, Die nackten Fragen des Evangeliums, München ²2017, 135-150.
[3] Ebd. 138.
[4] Ebd. 140.